Vater Rhein, die ärmste Sau

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Der tapfere Mittelrhein hat die Romantiker überlebt. Was soll jetzt noch kommen?
Der tapfere Mittelrhein hat die Romantiker überlebt. Was soll jetzt noch kommen? (Foto: Timo Stein)

Was der sich alles anhören musste. Der Mittelrhein hat eine ganze Horde einfallender Romantiker überlebt. Dieser Teufelskerl. 

Der Rhein kann nichts dafür. Er hat eigentlich nur das gemacht, was er immer macht. Mal eine Kurve. Dann herum um eine Insel. Vorbei an Burg und Schiefer.

Die Aufklärer ließen ihn noch links und rechts liegen wie der Rhein die Burgen. Zu eng das alles hier. Zu viel Kulisse. Zu viel Ruine und Mittelalter. Und dann kamen die Romantiker. Wie im Liebesrausch fielen sie ein und über ihn her.

Im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert besangen sie den Rhein im oberen Mittelrheintal – als würde das Besondere erst durch die Beschreibung besonders. Der späte Goethe, Hölderlin, Brentano, Schlegel, Novalis, Heine. Auf ihren Bildungsreisen nach Italien kamen alle hier durchmarschiert. Neben den Dichtern, die Maler und Musiker.

Mit Clemens Brentano und Achim von Arnim um 1801 ging es los. Die Romantikpioniere sammelten Volkslieder, Märchen und Sagen. Brentano erfand die Figur der „Lore-Ley“.

Lord Byrons poetisches Reisetagebuch machte das Tal dann in seiner englischen Heimat berühmt. Und die britische Aristokratie zog aus, um die heimische Industrieödnis gegen eine Postkartenidylle zu tauschen. Es war der Beginn der touristischen Erschließung des Oberen Mittelrheins.

Der Rhein wurde zum Symbol. Zu einem Fluss mit Bildungsauftrag. Die Romantiker bliesen ihn zu einem Sehnsuchtsballon auf, ketteten Versfuß um Versfuß wie Blei um den väterlichen Hals und romantisierten weg, was wegzuromantisieren war. Sie alle sangen ihre Lieder auf den Vater Rhein. Mit zuckersüßem Pathos wurde der Rhein zur ärmsten Sau.

Was der sich alles anhören musste.

Die erste, die es anders machte, war natürlich eine Frau. Mary Shelley reiste 1816 an und auf dem Rhein und ließ später ihre berühmteste Romanfigur ebenfalls dort durchreisen: Frankenstein.

Die Romantiker verliebten sich vor allem in den Mythos vom Vater. Vom Rhenus Pater („Vater Rhein“), der sich bereits bei den Römern findet. Der Dichter Martial erklärte den Rhein zum „Vater der Nymphen und der Bäche.“ Damals allerdings noch als Zwitterwesen. Vergil und Ovid setzten ihm Hörner auf. Er wurde Stier mit menschlichem Oberkörper. Der Stier verlor sich, übrig blieb der Mensch, der Vater.

Die Romantiker schließlich knoteten dem Stier bittersüße Schleifchen um die Hörner. Der romantische Mythos wurde zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Aus der Verschriftlichung der Romantik wurde die Verwertung des Romantischen. Aus dem Stier ein rosa Einhorn. Das heute aus Bierkrügen säuft, ganzjährig in Weihnachtsgeschäften einkaufen geht und dann zuhause im aufgemalten Fachwerk Kuckucksuhren an die Wände nagelt.

In der Hochphase der Romantik musste der arme Rhein für so ziemlich alles herhalten. Weil das heutige Deutschland in dieser Zeit einem politischen Flickenteppich glich, luden die Schlegels und Beckers ihn politisch und national auf. Der Rhein sollte nun die Einheit bringen.

Heinrich Heine setzte den Schlusspunkt unter die Deutsche Romantik. Er hat zwar mit seinem Loreley-Gedicht maßgeblich das romantische Bild von heute geprägt, reiste aber mit einer gesunden Portion Ironie im Gepäck ins obere Mittelrheintal. Und sparte nicht mit Kritik. Niklas Beckers Versuch, den Rhein einzudeutschen („Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“), konterte er mit spitzer Feder („Zu Biberich hab ich Steine verschluckt,/ Wahrhaftig sie schmeckten nicht lecker!/ Doch schwerer liegen im Magen mir/ Die Verse von Niklas Becker“).

Und in seinem Werk „Der Rabbi von Bacharach“ macht er deutlich, dass zur romantischen Seite immer auch eine dunkle gehört. Dass, wer über die Rheinromantik sprechen will, über die Judenpogrome nicht schweigen darf. (Auf dem Theaterfestival „An den Ufern der Poesie“ wird Heines „Rabbi“ in Bacharach gespielt.)

Heute endet die Rheinromantik mit einem Müsli-Post auf Instagram. Oder bei der lustigen Rentnergruppe, die sich um zehn Uhr morgens Erdbeerbowle bestellt.

Dann wirkt der Vater Rhein wie ein Vater, der seine Kinder nur jedes zweite Wochenende sieht. Und gar nicht daran denkt, für seine Abkömmlinge im Rest Europas Alimente zu zahlen.

Dabei braucht der Rhein gar keine Lieder. Keine gequält-romantisierte Dichtung. Man sollte ihm zuhören.

Man sollte ein paar Schritte mit ihm gehen.

Das reicht.

Du stellst die Füße in den Rhein. Und steckst den Kopf in die Wolken. Die Hügelketten rauf. Die Welt dahinter wird egal. Ein Containerschiff trägt bunte Würfel durchs Bild. Ein anderes bringt Schrott. Haufenweise Schrott. Haufenweise Versfüße: Hexameter, Trochäen, Anapäste. Sie funkeln wie Diskokugeln auf einer Ü30-Party, auf der alle über 40 sind.

Der Rhein flimmert sie und sich ins Reine. Und du gehst ein Stück. Der Wind ändert sein Temperament. Fische hüpfen. Verspielte Drehungen umwirbeln im Wasser liegende Steine. Goethe hupt. Und Brentano nervt noch immer.

Und du schließt die Augen. Und riechst das Meer.

Du schließt die Augen und spürst den Wind.

Es kommt dann mit voller Wucht. Das Märchen, das keines sein will.

Der Rhein gibt dir dann das Gefühl, einer alten Liebe hinterher zu reisen.

Du fährst Hunderte Kilometer. Stehst vor ihrer Tür. Du willst sie in den Arm nehmen, einfach halten. Du denkst an all die ungeschriebenen Gedichte. An all die Worte, die nie gesagt wurden. All das wird zu einem müden klumpen Ahnung.

Doch alles das existiert nur in deinem Kopf. Du hast es exklusiv.

Und du fährst wieder, ohne jemanden gehalten zu haben. Und du schläfst wieder, ohne dich an diesen Geruch an deiner Seite zu erinnern.

Du bleibst zurück in der festen Überzeugung, dass da niemand ist, der gehalten werden will. Und niemand mehr kommt.

Vielleicht nie mehr.

Und der Rhein weiß das alles.

Und wird zur neuen Liebe.

Er schickt dir die nächste Loreley. Natürlich nur, um dir beim Ertrinken zuzuschauen. Der Hund.

Das alles sagt dir Brentano nicht. Aber der Rhein tut es.

Irgendwie.

In jeder verdammten Sekunde.

Mit jedem verdammten Liter Wasser, den er von der Schweiz in die Nordsee schickt.

13 Kommentare

  • Der bisher vielleicht beste Text des Burgenbloggers! Der Mann hat wirklich ein Auge, zu sehen, den Verstand, das Gesehene und Gelesene zu verstehen, und eine Schreibe, die fesselt! Würden wir solche Leute nicht überall im Land brauchen, würde ich vorschlagen, dass der Kerl für immer auf der Burg hocken und bloggen sollte…

  • Schmitz/Wagner says:

    Wunderbar, dieser Burgenblogger gefällt uns!

  • Sandra T. says:

    Toller Text !! ????????

  • Gänsehaut! Wieder mal.

  • Claus Köppinger says:

    Bei diesem Text beginnen die Zahnräder meines Kopfkinos angenehm zu schnurren.
    Ich glaube mich an die Idee kleiner Filme aus dem Mittelrheintal zu erinnern…
    Täusche ich mich?

    • Timo Stein says:

      Sehr dunkel. Aber die besten Ideen sind ja dazu da, niemals das Licht der Welt zu erblicken..

    • Claus Köppinger says:

      Dem Kameramann blutet bei solchen Geschichten das Herz…

    • Maria Schmelzeisen says:

      Maria Schmelzeisen says:
      19.Juli2017
      Schoen sind die dunklen Erinnerungen mit Kastanjenallee ,mit Autobahn ist es weniger geworden.

  • fux says:

    Endlich einer, der den armen Heine nicht als Romantiker vereinnahmt-Danke!

  • Maria Schmelzeisen says:

    Maria Schmelzeisen
    18.Juli 2017
    Mach weiter so Timo Stein,Deine Romantiek gefaellt mir immer besser
    eigentlich schade das ich den Vater Rhein nie mehr begruessen darf.

  • Horst Felder says:

    Mary Shelly war eine Vertreterin der sogenannten „schwarzen Romantik“, heute nennen sich diese „schwarzen Seelen“ Goths… nur mal so nebenbei…

    • Timo Stein says:

      Richtig, die schwarzen Romantiker waren die Lichtblicke in dieser Zeit. Ganz besonders E.T.A. Hoffmann und Edgar Allen Poe.

  • Johannes Aufgebauer says:

    Großartig! Ich glaube, du bist dir mit Friedrich Paff einig, zumindest was den zweiten Teil betrifft. Romantik spürt einem Geheimnis nach, das jeder selbst suchen muss. Und kleistert nichts zu. Und will auf keinen Fall zu falschem Pathos und Nationalstolz aufgeblasen werden.