Flucht vor der alltäglichen Bedrohung im Heimatland: Delmy Quintanilla und Fabian Pacheco

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Seit mehreren Monaten bin ich im Oberen Mittelrheintal unterwegs, um dem Gefühl von Heimat oder Zuhause, beziehungsweise der Sehnsucht danach, auf die Spur zu kommen. Eine außergewöhnliche Begegnung mit einem Paar aus Zentralamerika, das in Lahnstein ein neues Zuhause fand, veröffentliche ich hier im Blog als kleinen Vorgeschmack auf mein Buch, das 2021 erscheinen soll.

Heimat ist Stabilität und Sicherheit. Heimat das ist das Grundbedürfnis nach einem sicheren Zuhause. In der Maslowschen Bedürfnishierarchie stellt Sicherheit eines der ersten Bedürfnisse des Menschen dar, das befriedigt sein muss, um eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln. Was aber, wenn Gewalt und Kriminalität das Zuhause beherrschen?

Ich sitze mit Delmy Quintanilla und Fabian Pacheco in ihrer 70 Quadratmeter Wohnung in Lahnstein. Auf meinem Schoß steht ein Teller mit „Budin“, einem typischen Nachtisch aus El Salvador. Hinter mir liegen drei Stunden Reise – sprachliche Reise durch ein fremdes Land.

El Salvador ist ein kleines Land in Zentralamerika. Es hat Surfstrände an der Pazifikküste, eine bergige Landschaft mit Vulkanen. Dort gibt es Kaffeeplantagen, Regenwälder und Wasserfälle. Auf den Fotos, die ich mir ansehe, sieht das Land wunderschön aus. „Wie im Paradies“, denke ich. Die Landschaft ist reich an Farben, hat eine üppige Flora und Fauna.

Während ich ein Stück Budin esse, der ein Superlativ an Süße ist, denke ich über die andere Seite El Salvadors nach: 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutslinie, von 1980 bis 1992 herrschte ein Bürgerkrieg in dem kleinen Land, dessen Wunden und Traumata bis in die Gegenwart verwachsen sind. Heute bestimmen neben korrupten Politikern die Maras, Jugendbanden, das Leben der Bevölkerung.

Ich blicke auf meinen Teller zu der Süßspeise: Die karamellisierten Bananen zwischen Mürbeteig und Vanillecreme schmecke ich nicht mehr, es ist alles irgendwie gleich süß.

Drei Stunden zuvor: Ich komme in Lahnstein an, es ist warm. Nein, eigentlich ist es heiß. Mal wieder, denke ich. Es ist einer dieser Tage, an dem die 35-Grad-Marke gesprengt wird. Meine Hände kleben, der Schweiß läuft mir den Nacken herunter und die Bäume sehen jeden Tag schlechter aus. Sie sehen nicht nach Herbst aus, es ist erst Ende August, sondern sie sehen einfach vertrocknet aus.

Delmy Quintanilla und Fabian Pacheco wohnen im sechsten Stock eines Hochhauses. Mit Taunusblick, denke ich, das ist gut. Die Flure sind weit und dunkel. Grauer Teppichboden liegt überall. Der Fahrstuhl ist eine winzige Parzelle, viel zu klein für das Gebäude, in dem ein paar Hundert Menschen leben.

Fabian begrüßt mich herzlich und etwas zurückhaltend. Führt mich in ihre Wohnung, die hell und freundlich ist. Der Ausblick über den Taunus ist einmalig und lässt die dunklen Gänge des Hochhauses schnell wieder vergessen. Ob ich etwas trinken möchte, fragt Fabian mich. Und ich solle mich doch zu Delmy auf das Sofa setzen.

„Ja, einfach Wasser“, antworte ich. Während Fabian in die Küche geht, lächelt Delmy mich still an. Was würde ich tun? Wie würde ich mich fühlen, wenn da auf einmal eine Fremde wäre und etwas über mein Leben, meine Flucht, meine Heimat erfahren möchte – frage ich mich und lächle ähnlich still zurück.
Als Fabian die Sprudelflasche aus dem Kühlschrank nimmt und mich fragend ansieht, sage ich „Aqua del griffo seria perfecto.“
Er lacht: „Du sprichst Spanisch?“
„Na ja, ja schon, ein wenig – un poco“, sage ich zögerlich. Die beiden sehen mich interessiert an und lächeln. Danach ist das Eis gebrochen und Deutsch wird nur noch gesprochen, wenn mein Spanisch nicht ausreicht. In der eigenen Sprache sprechen zu können, schafft Vertrauen und ich kann ein wenig dazu beitragen, zumindest versuche ich eine Hand zu reichen.

Fabian ist 41 und Delmy 36. In El Salvador arbeitete er als Architekt, sie als Buchhalterin. Sie kamen mit dem Flugzeug nach Deutschland. Elf Stunden dauerte der Flug über Panama. Vor ihrer Abreise informierten sie sich über die Situation im Land, stellten vor Ort einen Asylantrag. Kamen zunächst in ein Flüchtlingscamp nach Speyer und bezogen dann ihre erste Wohnung in Lahnstein. Das war im November 2018. Vier Monate zuvor, im Juli 2018, landete ihr Flugzeug auf deutschem Boden.

Noch bevor ich fragen kann, warum sie sich für Deutschland entschieden haben, sagt Delmy, dass es in El Salvador unsicher, die Kriminalität hoch sei. Beinahe als müsse sie sich rechtfertigen. Rechtfertigen, ihr Land verlassen zu haben, in dem man die eigenen Kinder nicht mit dem Schulbus fahren lässt, weil sie vielleicht nicht mehr zurückkommen und stattdessen von den Maras rekrutiert werden.

Wieso also Deutschland möchte ich wissen? Die Vereinigten Staaten seien doch näher, nicht nur geografisch, sondern auch auf anderen Ebenen. In El Salvador lernen die Schüler früh Englisch und seit 2001 ist die Landeswährung der US-amerikanische Dollar.
„In den USA ist es für Südamerikaner sehr schwierig geworden, Fuß zu fassen. Es war ohnehin schon immer schwierig, nicht im Schattendasein der Illegalität zu leben. Doch unter Trump sind die Bedingungen unmöglich geworden“, sagt Delmy. Stattdessen haben die Buchhalterin und der Architekt sich über Europa informiert und sich irgendwie in Deutschland verliebt. Angela Merkels Flüchtlingspolitik habe dazu beigetragen. Deutschland stehe für Sicherheit und eine gute Zukunft, sagt Fabian.
Delmy lacht: „Die Kinder fahren hier allein Bus oder Zug. In El Salvador wäre das unmöglich.“
Es ist ein Selbstverständnis an Sicherheit, über das wir uns zum Glück keine Gedanken machen müssen. Dieses Selbstverständnis zählt a priori zu unserer Heimat dazu. Was es bedeutet, wenn dieses Grundbedürfnis fehlt, lerne ich zu verstehen, als mich Delmy und Fabian durch ihre Heimat mitnehmen.

Durch den Währungswechsel sei das Leben in El Salvador sehr teuer geworden, sagt Delmy. Als Buchhalterin habe sie etwa 800 Dollar verdient, eine Wohnung wie ihre in Lahnstein würde etwa 500 Dollar kosten, da bleibe nicht mehr viel zum Leben. Zumal die meisten Menschen von 300 Dollar im Monat Leben müssen, das ist der Mindestlohn in El Salvador. Das Land hat sich wirtschaftliche Vorteile von dem Währungswechsel versprochen, passiert ist jedoch nicht viel. Die korrupte Politik, Kriminalität und Bandenkriege lassen nach giz-Angaben rund 38 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsschwelle von 2 US-Dollar pro Tag leben.

Die Deutschen seien sehr verantwortungsvoll und man würde ihnen viel Vertrauen schenken, sieht mich Fabian an. „Generell vertrauen sich die Menschen hier sehr viel.“ Ich blicke ihn verwundert an, verwundert über das, was er meinen könnte. In El Salvador sei das anders, weil man nie wissen könne, wem man trauen kann, das eigene Leben kann von einer falschen Entscheidung abhängen. Vertrauen in die gute Tat, in ein Wohlwollen des Gegenübers sei gefährlich. „Die Maras, die Jugendbanden, töten für ein iPhone oder weil sie schlechte Laune haben“, kommentiert Delmy. Ich kann mir schwer vorstellen mit so einer Vorsicht, so einem Misstrauen zu leben, die Angst der beiden ist jedoch spürbar.

„Was ist mit der Polizei?“, frage ich.
Die tue nicht viel, müsse maskiert arbeiten, sonst wären ihre Familien auch gefährdet, antwortet Delmy schulterzuckend.
Familien, Eltern und Geschwister des Paares leben noch in dem lateinamerikanischen Land. Ob Delmy und Fabian sie sehr vermissen?
„Nun ja, irgendwie schon“, sagt Delmy, „aber zum Glück gibt es Video-Calls und WhatsApp. Das Internet und die Kommunikationsmittel, die uns heute zu Verfügung stehen, lassen uns zwar nicht physisch am Leben der anderen teilhaben, aber wir sehen uns und wir können jederzeit anrufen.“ So kann das Internet, der digitale Raum auch ein Stück Heimat transportieren, denke ich und blicke auf mein Handy: Es ist 17 Uhr, in El Salvador ist es 9 Uhr morgens. Ein durchsichtiger Faden spannt sich zwischen die beiden Länder, die Familie und Heimat sind.

Im April wollte Fabians Bruder nach Deutschland kommen, doch durch Corona wurde der Flug abgesagt. „Mal sehen, vielleicht klappt es nächstes Jahr“, sagt er zuversichtlich.

Seit Delmy und Fabian in Lahnstein wohnen, singen sie in einem evangelischen Chor. Der Chor besteht aus rund 40 Personen, die sich hilfsbereit um die beiden kümmern.
„Wie eine zweite Familie?“, frage ich und sehe zu der Gitarre, die an der Wohnzimmerwand lehnt.
„Eher wie 15 neue Großelternpaare“, lacht Delmy. Man habe sie wirklich herzlich aufgenommen, sie unterstützt, als sie umgezogen sind und Möbel brauchten. „Da hat fast jeder etwas beigesteuert“, ergänzt Fabian. In El Salvador gebe es diese Hilfsbereitschaft auch, sagt Delmy, nur hätten die Menschen eben kaum etwas, was sie teilen können.

Bald macht das Paar sein Deutschexamen. Erst danach können sie auf Jobsuche gehen. „Ab und zu herrscht gerade ein Sprachsalat im Kopf“, sagt Delmy. Man versteht das Gesagte viel schneller, als man antworten kann und sucht verzweifelt nach den richtigen Worten. „Ich kenne das“, sage ich, „es fühlt sich an wie Fische zu fangen mit den bloßen Händen.“

Immer wieder sagen die beiden, dass sie die Ruhe in Lahnstein sehr genießen. Den Wald, die Parks seien wunderschön. Und alles sei so sauber. Es sind die Selbstverständlichkeiten, die wir in unserem Land oft nicht mehr wahrnehmen, wenn wir uns über rote Ampeln, laute Nachbarn oder die E-Mail-Flut beschweren. Ich mag den neugierigen und ruhigen Blick, den die beiden auf ihre neue Umgebung werfen – ohne viel zu urteilen und So-Sind-Die-Deutschen-Schubladen.

„Und ist das hier schon Heimat?“, frage ich. Delmy sagt ziemlich schnell, dass sie sich „en casa“ zuhause fühle. Fabian denkt eine Weile nach und antwortet dann, dass man sein Leben lang wie ein Baum geformt worden sei, hat den Nährboden, die Kultur, die Verhaltensweisen seines Landes eingeatmet, sich von seiner Familie genährt und entwickelt. Und jetzt sei eben dieser Baum in einer ganz anderen Umgebung mit anderen Mustern und Strukturen. Und man wird sehen, wie sich die Wurzeln entwickeln. Alles brauche Zeit, die Zeit müsse man sich lassen und einfach weiter ankommen.

Ob es etwa gebe, was sie aus ihrem Land, ihrer Heimat vermissen, frage ich.
Sie lachen beide und sagen schnell: das Essen, die Früchte und das Gemüse. Papayas, Mangos, Ananas. „Das alles ist in El Salvador viel größer und schmeckt so intensiv“, sieht Delmy mich an. Die Papayas hier seien hingegen sehr klein, ziemlich teuer und naja, sie lacht, relativ geschmacklos.
Es sind Farben des Essens, die Farben des Landes, die auch Heimat ausmachen.
„Patata y Pan“, Kartoffeln und Brot, das sei das Essen ihrer neuen Heimat, sagt Delmy.
„Und vergiss das Bier nicht“, ergänze ich lachend.

Bevor ich das letzte Stück Budin esse, erzählen sie mir von ihrem ersten Karnevalsumzug in Deutschland. Die Kostüme seien ganz hübsch gewesen, doch der Tanzstil der Besucher habe sie verwundert. In El Salvador habe jede Musikrichtung, ob Samba, Tango oder Merengue einen eigenen Tanzstil. Anhand des Tanzstils könne man erkennen, ob es Samba oder Tango ist.
„In Deutschland?“, frage ich.
„Naja“, sie lacht, „baile liberal.“

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