Stadtrandlichter

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Der Rhein ist dunkel. Die Straßenlaternen glitzern warm gelblich im Fluss. Es ist Mittwochabend. Fußballabend. Boppards Straßen sind leer, obwohl es erst 19 Uhr ist. So ist also das Mittelrheintal in der dunklen Jahreshälfte, denke ich. Es ist stiller, ruhiger, aber nicht ausgestorben oder verlassen. Passt irgendwie zur Jahreszeit – zum Rückzug.

Am Rhein steht ein Angler mit seinem Sohn. Die einzelnen Angeln sind mit Lichtern versehen, sie leuchten grün, vier an der Zahl.
„Welchen Fisch angeln Sie?“ frage ich leise und gehe langsam auf den Mann zu, der unterhalb des Bürgersteigs am Ufer steht.
„Sie können ruhig lauter sprechen“, grinst er, „Barsch, Aal, Lachs, Wels. Hauptsächlich aber Barsch“
„Läuft das gut?“
„Naja, in den letzten Jahren wurde es weniger. Aber ich angel ohnehin eher, um Zeit mit meinem Sohn zu verbringen, und den Fisch verschenke ich.“
„Wieso?“
„Schmeckt nicht besonders.“
Ich muss lachen: „Na, dann. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“ „Ebenso.“

Langsam gehe ich wieder die Böschung hoch. Schmeckt nicht besonders, nun gut, wieso nicht. In einer Kölsch-Kneipe läuft Fußball. Viele Männer, manche in Trikots, manche mit Skat-Karten, es wird geraucht und kommentiert, von welcher Ecke man den Ball hätte doch viel eher ins Tor schießen können. Easy, denke ich, ist ja immer einfacher von außen betrachtet. Aber das gehört zum Fußball scheinbar dazu, wie der Ball und die Spieler.
Nach der ersten Halbzeit gehe ich. Doch zu viel Rauch und irgendwie hat mich etwas anderes nach Boppard gezogen.

Die Erinnerung an Jan, den ältesten Single-Mann der Welt. Ich beschließen am nächsten Morgen noch einmal zukommen, um zu sehen, ob ich Jan wiederfinde.

Im Café, in dem ich damals Jan getroffen habe, sagt man mir, dass man Jan schon länger nicht mehr gesehen habe, aber man glaube, es gehe ihm gut.
Ein wenig enttäuscht laufe ich durch das morgendliche Boppard, denselben Weg entlang, den ich schon am Abend zuvor gegangen bin. Der Angler und sein Sohn sind nicht mehr da. Ist ja auch Schulzeit, denke ich. Auch jetzt ist die Stadt stiller im Vergleich zu den Sommermonaten.

Ich schicke Jan einen Gruß in Gedanken und fahre zum Haus Sabelsberg. Irgendwas zieht mich dorthin. Vielleicht der Torbogen, den man von der Straße aus sehen kann, oder weil mir der Name schon ein paar Mal begegnet ist.

Die Villa oder das Haus Sabelsberg wurde 1910 erbaut. Das Gebäude steht auf einer Erhöhung Richtung Boppard-Buchholz, drumherum befindet sich ein großer Park. Das Haus ist denkmalgeschützt und hat für mich diesen Gründerzeit-Jugendstil-Charme. Google verrät mir, dass seit 2013 die „Fazenda da Esperança“ das Haus bewohnt und es dort ein Café gibt. „Fazenda da Esperança“ heißt „Hof der Hoffnung“ und ist ein internationales, pastorales Projekt, das Süchtigen aller Art Hilfe für ein neues Leben geben will.

Als ich dort oben ankomme, ist da zunächst niemand. Neugierig gehe ich um die riesige Villa herum, vorbei an ein paar Hühner- und Hasenställen, an Schildern, die das Rauchen untersagen, und blicke zum Vier-Seen-Blick, den man von hier wunderbar sehen kann.

Im Parterre ist ein Fenster geöffnet und zwei junge Männer in Arbeitskleidung mustern mich neugierig.
„Hey“, sage ich.
„Hallo“, sagen sie.
„Im Internet stand etwas von einem Café, ist das geöffnet?“
Nee, sagen sie, aber ich könne trotzdem kurz reinkommen.

Wenige Sekunden später stehe ich im Eingangsbereich der Villa und Max, der etwas kleinere der beiden, bietet an, mir das Café zu zeigen.
„Ich habe gehört, dass die Fazenda da Esperança das Haus Sabelsberg bewohnt. Gehört ihr dazu, also zur Fazenda?“
„Ja“, sagt er und mustert mich noch einmal neugierig von der Seite.
„Was weißt du denn darüber?“, fragt er dann.
„Mhm“, sage ich vorsichtig und überlege kurz, was wohl die richtigen Worte wären, um nicht urteilend oder skeptisch oder sonst wie unpassend zu klingen, entscheide mich dann aber einfach für das, was ich gelesen habe: „Die Fazenda da Esperança ist ein Projekt, das Drogenabhängigen hilft, aus der Abhängigkeit zu kommen und das über einen spirituellen Weg. Und dass hier Kaffee geröstet wird.“
Max grinst, „na, dann weißt du ja fast schon alles.“

Er führt mich ins Café, das mit seinen drei Meter hohen Wänden, dem Stuck an der Decke und der gemütlichen Einrichtung mit Sicherheit der Szene-Treffpunkt jeder Großstadt wäre. Währenddessen erklärt mir Max, dass der Kaffee im Moment noch in Mannheim geröstet werde, zwar auch von ihrer Organisation, aber bald bekämen sie auch in Boppard ihre eigenen Röstautomaten.
„Die Maschine ist leider aus“, sagt Max, „aber wenn du möchtest, koche ich dir trotzdem einen Kaffee.“
„Nee, passt schon.“

Max und ich setzten uns an einen der leeren Tische und dann beginnt er einfach zu erzählen. Er ist 18 Jahre alt und natürlich ist er nicht ohne Grund hier. Wenn er von seiner Sucht erzählt, dann ohne Mitleid zu erzeugen, klar und präzise. Mitleid helfe ja sowieso nicht, seine blauen Augen sehen mich ernst an.
Er verwebt seine Geschichte mit der der „Fazenda da Esperança“.

Die „Fazenda da Esperança“ sei eigentlich schon so etwas wie eine Glaubensgemeinschaft, sagt er. Männer und Frauen leben getrennt. Hier in Boppard gebe es derzeit fünf männliche Rekuperanten und drei Verantwortliche. Rekuperant komme aus dem Lateinischen von „recuperare“ und bedeutet „genesen.“ Man wolle hier nicht von Klienten oder Patienten sprechen. Zwölf Monate müsse man bleiben. In diesen zwölf Monaten gibt man alles vermeintlich Wichtige ab, das heißt Geld, Laptop und Handy. Man lebe in Armut wie der heilige Franziskus. Die Fazendas werden in Deutschland bewusst nicht durch Kranken- oder Rentenversicherungen finanziert.
„Das heißt, ihr finanziert euch selbst?“
„Ja, wir erhalten keine Mittel vom Staat. Natürlich gibt es hin und wieder Spenden. Unser Essen bekommen wir von der Tafel, Hühner und Gänse haben wir hier. Aus Obst stellen wir selbst Marmelade her und verkaufen diese dann, genauso wie den selbstgerösteten Kaffee.“
„Klingt nach viel Arbeit?“
„Schon.“ Die Arbeit und der Schaffensprozess soll helfen, ihnen die Würde zurückzugeben, die sie durch die Drogen verloren haben.
„Wir halten auch das Gebäude, also das Haus Sabelsberg instand“, sagt Max, „dafür dürfen wir hier frei wohnen. Manchmal ist das gar nicht so einfach, denn nicht immer findet man die geeigneten Teile. Wir nutzen das, was weggeworfen wird. Und dann klappt natürlich nicht immer alles, so wie gewollt.“
„Aber das kann ja auch ganz gut sein – also zu sehen, dass Dinge im Prozess geschehen und nicht immer alles sofort laufen muss.“
„Ja, das zeigt einem in jedem Fall Möglichkeiten.“

Max ist seit neun Monaten in der Fazenda da Esperança. In den ersten drei Monaten habe man keine Familienbesuche, erst danach dürfe man einmal im Monat die Familie sehen. Briefe könne er schreiben und empfangen, Pakete werden immer mit einem Verantwortlichen geöffnet. Mit einem weiteren Rekuperanten teilt er sich ein Zimmer. Therapiestunden im klassischen Sinne gebe es nicht, sagt er mir, dafür aber den zweimal wöchentlich stattfindenden Austausch.
„Wir sprechen dann über das, was uns gerade beschäftigt. Wir können einfach unseren ganzen Kummer ablassen, ohne dass es bewertet wird. Und oft stellt sich dann heraus, warum einer vielleicht vorgestern komisch zu einem war.“
„Das stell ich mir gar nicht so leicht vor, einfach so von seinen innersten Gedanken zu erzählen, sie loszulassen vor anderen.“
„Am Anfang ist es das auch nicht. Ganz ehrlich: Die ersten drei Monate habe ich nur gesagt Mein Name ist Max, mir geht‘s gut und ich glaube nicht an Gott.“
„Wieso Gott?“
„Wir leben hier in einer spirituellen Gemeinschaft, jeden Morgen wird ein Rosenkranz gebetet. Gläubiger bin ich dadurch allerdings nicht geworden. Vielleicht spiritueller. Aber das wird in der Fazenda auch gar nicht von einem verlangt – also religiös zu werden. Für mich steckt das „göttliche“ schon in der Nächstenliebe, die du hier auch ganz intensiv erfährst.“
„Inwiefern?“
„Ich lebe mit einer anderen Person zwölf Monate auf einem Zimmer, da gerät man natürlich auch aneinander, wir sind hier alles verschiedene Typen, verschiedene Charaktere, alle unterschiedlich alt. Ich bin der Jüngste, der Älteste ist 59 Jahre alt. Auf der anderen Seite teilen wir unsere Sorgen, Ängste miteinander, kennen unsere Süchte. Wir müssen aufeinander Rücksicht nehmen und uns anpassen. Das ist schon eine intensive Zeit.“
„Kann man sagen, dass ihr ein wenig wie Brüder werdet?“
„Ja, schon. Wir leben hier als Familie zusammen, wir kochen gemeinsam, jeder hat seinen Putzdienst, die Ställe der Tiere müssen sauber gemacht werden, jeder hat eben seine Aufgaben.“ Auch eine ehrlich gemeinte Umarmung erfahren hier viele seit Langem wieder.

Max erzählt mir, dass sich seine Beziehung zu sich selbst sehr gewandelt habe, er sei reflektierter geworden.
„Früher habe ich viel gelogen. Natürlich war das durch die Abhängigkeit bedingt, doch auch weil lügen einfacher ist. Jemandem die Wahrheit zu sagen, kann sehr verletzend sein.“
„Ja, für beide Seiten. Man kann sich hinter Lügen gut verstecken.“
„Genau, aber das will ich nicht mehr. Und deswegen versuche ich gerade, recht schonungslos zu sagen, was gerade Sache ist. Das führt natürlich manchmal zu Konflikten, aber ich bin einfach näher bei mir selbst, weiß, wer ich bin.“ Und auch darum gehe es in dem Projekt der „Fazenda da Esperança“, die Menschen wieder mehr zu sich selbst zu bringen, einen wahren Bezug herzustellen.
Etwa 140 Fazendas gibt es weltweit, die meisten in Brasilien. Von dort kommt das Projekt auch. In Europa existiert die Einrichtung mit Selbsthilfecharakter seit über 20 Jahren, mittlerweile mit 15 Standorten.

Zwischendurch habe ich manchmal das Gefühl, nicht mit einem 18-jährigen zu sprechen, was daran liegen kann, das Max einfach viel erlebt hat. Andererseits müssen 18-jährige auch nicht alle gleich weit sein. Warum also von meiner Standard-Schablone ausgehen? Frage ich mich.

Eines seiner größten Probleme sei im Moment der Futterneid, sagt er mir am Ende.
„Du meinst, dass du nicht genug zu essen bekommst?“
„Ja, ich sehe, der Topf ist voll, aber ich will das Essen eigentlich mit keinem teilen, habe Angst, nicht genug zu bekommen.“
„Obwohl du noch nicht einmal angefangen hast zu essen?“, sehe ich ihn an, „könnte auch eine gute Metapher für unsere westliche Gesellschaft sein.“
„Ja“, Max grinst, „bei einer Weiterbildung durfte ich die gesamte Zeit über immer als Letzter zur Essensausgabe, um eben das zu üben. Einem anderen ist nämlich mein Futterneid aufgefallen.“
„Und jetzt?“
„Klappt’s ein wenig besser.“
„Freust du dich eigentlich auf zuhause?“
„Schon“, überlegt Max, „aber jetzt bin ich erstmal hier. Und gleich muss ich eine Gans schlachten.“
„Das hättest du vor einem Jahr wahrscheinlich nicht gesagt.“
„Nein“, lacht er.

Max bringt mich wieder zum Eingang, sonntags sei das Café immer geöffnet, da könne ich wieder kommen, wenn ich wolle.
„Bestimmt!“

Wir umarmen uns zum Abschied. Ich gehe langsam wieder zum Auto, sehe noch einmal über Boppard, den Rhein und zum Haus Sabelsberg hoch. Das Therapiekonzept ist mit Sicherheit einzigartig und speziell. Menschen mit starken psychischen Erkrankungen, die auf Medikamente angewiesen sind, gehen schnell wieder, sagt mir Max. Aber das sei dann auch okay. Ich bewundere ihn für seine offene Art und er sagt: „Du siehst so aus, als könntest du das gut annehmen.“

Auf dem Heimweg höre ich mir von Clueso „Stadtrandlichter“ an und finde das irgendwie passend zu meinen zwei Tagen Boppard.

„Heimkehr bleibt ein woher und ein wohin
Ich bin gespannt ob dein Wort noch steht
Ich war so lange weg
Hoffentlich komm ich noch nicht zu spät“

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