panta rhei(n) – Immer im Fluss

von

Auf einmal ist da Ali.
Ali steht vor einem Informationskasten am Ortseingang von St. Goar und studiert die darin hängende Karte über die Loreley.

Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er ist schlaksig, hat kurze blonde Haare, seine Arme und Beine sind braun gebrannt, nur auf der Nase schält sich die Haut vom Sonnenbrand. In der rechten Hand hält er ein Sauerteigbrot mit Salami, hinter ihm steht ein Fahrrad mit vielen Fahrradtaschen.

Ali sieht irgendwie so aus, als würde er schon länger mit dem Fahrrad unterwegs sein. Ich hadere einen Moment mit mir, spreche ihn dann doch an. „Bist du schon lange unterwegs?“, springen die Worte holpernd aus meinem Mund. Er dreht sich langsam um. Es war das Erste, was mir in den Sinn kam und zwischen das gerade Gesagte mischt sich ein wenig Scham.

„26 Tage.“

„Nur am Rhein?“

„Nee, von Berlin aus bin ich erst über Prag in die Schweiz gefahren. Da habe ich meinen Bruder besucht. Und seit der Schweiz geht’s den Rhein entlang.“

Er nutze die EuroVelo-Routen, sagt er mir. Das ist ein europäisches Radtouren-Netz. Aktuell besitzt es über 16 Strecken, 45.000 Kilometer: zehn Nord-Süd-Wege, vier West-Ost-Wege und zwei Rundwege. Ali ist zuerst den EuroVelo 7 Richtung Prag gefahren, dann über den EuroVelo 6 in die Schweiz und jetzt fährt er den EuroVelo 15 entlang – den Rheinradweg. Dieser führt durch fünf Staaten vom Quellgebiet des Rheins in den Schweizer Alpen bis zur Mündung bei Rotterdam.

„Also immer am Fluss entlang?“, frage ich.

„Ja, mit ihm, an ihm, in ihm.“

Ali strahlt eine tiefe Ruhe und Gelassenheit aus, als sei das, was er gerade tut, richtig. Ich versuche zu fassen, wie das sein mag. Und erinnere mich an ein Schweigewochenende im Wald. Auf einmal war der Kopf leer und man war einfach im Jetzt.

„Sollen wir uns setzen? Ich wollte ohnehin gerade eine Pause machen.“ Ich setze mich mit Ali auf eine Bank und wir blicken auf den Rhein, während er mir von seinen Erlebnissen in den zurückliegenden Tagen erzählt.

Es ist sein neunter Tag am Rhein, einen Tag habe er Pause gemacht. „Wäsche waschen, Dinge ordnen, Haushalt eben.“ 827 Kilometer sei er bis hier hin gefahren. In vier Tagen wolle er in Holland sein, da wo der Rhein in die Nordsee mündet. Ein straffes Programm, wie ich finde. Fünf Länder, ca. 1230 Kilometer, ein Fluss, tausende Gesichter.

„Wild, reißend, weich fließend. Und hier im Mittelreintal hast du wieder diese Berge – einfach genial. Die haben mich schon in der Schweiz begeistert.“

Dann ist da auf einmal wieder dieses Heraklit Zitat. Seit ich auf der Burg bin, geistern diese Worte immer mal wieder durch meinen Kopf: „Panta rhei – Alles fließt.“ Dieser Fluss, den ich von meinem Turmzimmer sehe, an dem ich zu meinen Erkundungstouren entlang fahre, der die ganzen Orte wie eine wundersame Perlenschnur zusammen hält, der macht irgendwas mit einem.
„Ja, genau“, sagt Ali, „der Fluss, das Wasser hat irgendwas Besonderes. Das kann man nur fühlen, Worte reichen da nicht.“

Ali fährt nicht ohne Grund Fahrrad, da ist etwas, was ihn gebrochen hat. Aber das Fahren am Fluss führe die Dinge wieder zusammen, wie er sagt.

Und da ist sein Fahrrad – vor zwei Jahren habe er sich das Rad für 30 Euro gekauft, mittlerweile habe er über 1000 Euro in das Gefährt investiert. Sein Fahrrad ist sein Begleiter, sein bester Freund – ein Teil von ihm, der ihn einmal auf der Reise fast verlassen hätte: „Das war mein größter Niederschlag, mein Tiefpunkt in all den Tagen“, sagt Ali. Die Gabeln seines Vorderrades hatten sich beim Fahren verzogen, die Taschen seien zu schwer gewesen. „Und dann stand ich da und wusste nicht weiter. Mitten im Nichts.“ Zwei andere Radfahrer, die kurz danach kamen, haben ihn schließlich mitgenommen und in einen Fahrradladen gebracht, dort habe man ihm geholfen.

Er dachte, er müsse abbrechen, aber jetzt sei er hier. „Großartig, oder?“

Ali sieht zufrieden aus.

„Möchtest du danach wieder zurück nach Berlin?“, frage ich ihn.
„Ja, schon“, das sei seine Heimat, aber den Fluss nehme er mit, und wenn er es nicht aushalte im Großstadtwahnsinn, dann könne er ja wieder aufs Rad steigen.
„Aber jetzt heißt es erstmal weiter fahren. Und das ist alles.“

Ich sende Ali die Worte von Goethe hinterher, während er sich auf den Weg macht:

„Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal
Ach, und in dem selben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.“

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