Myotis Myotis, Metamorphose und Mondschein

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„Und Mitternachtstexte“, füge ich gedanklich hinzu. Es ist zwanzig vor eins, das Mittelrheintal schläft. Auf dem Rhein liegen die orangenen Lichter der Straßenlaternen, der dunkle Fluss verschmilzt mit den Bergen und ab und zu fährt ein Auto auf der B9 entlang. Nur in meinem Burgzimmer brennt noch Licht.

Ich bin nicht müde, kann nicht schlafen und so denke ich über meinen letzten Ausflug nach: Ein zweites Mal habe ich Wolfgang Schmidt in Ehrental besucht. Bin mit ihm aufgebrochen, um das Große Mausohr zu beobachten – Myotis, Myotis, so der wissenschaftliche Name der Fledermaus. Das Große Mausohr lebt im Kirchturm der Pfarrkirche St. Nikolaus im Ortsteil Kamp von Kamp-Bornhofen. „Bis zu 2000 Stück verbringen ihren Sommer im Dachstuhl der Kirche“, sagte Wolfgang mir. Es ist eine der größten Kolonien in Rheinland-Pfalz, eine weitere gebe es in Bacharach.

Fledermäuse sind sehr außergewöhnliche Tiere, wie ich finde. Seit jeher üben sie eine Faszination auf uns Menschen aus. Mythologisch, religiös, als Comic-Figur, die Tomaten aussaugt, oder als düsterer Superheld „Batman“ im Fledermaus-Kostüm mit Waffenarsenal im Keller.

Beinahe unwirklich wirken diese Tiere, wie Fabelwesen. Ihre Körper und Gesichter ähneln Mäusen – daher wohl der Name. Doch es gibt auch Arten mit stark vergrößerten Ohren, die mit Rillen und Furchen versehen sind. Andere wiederum haben große Nasenhöhlen. Zahlreiche Künstler waren von ihnen bei der Gestaltung dämonischer Wasserspeier an Kirchtürmen inspiriert.

Wo wir wieder beim Thema sind – den Kirchen in Kamp-Bornhofen. Wolfgang Schmidt führt mich an dem Abend zu zwei Kirchen:
Die erste Kirche, die wir uns ansehen, war bis vor Kurzem das „Hotel Kurfürst“ mit dem Gästehaus St. Augustin. An der Außenmauer hängt ein Schild vom „Original singenden Wein-Wirt“, der Innenhof sieht für mich jedoch so aus, als hätte hier schon länger keiner mehr gesungen: vertrocknetes Efeu, zu hohes Gras zwischen den Pflastersteinen und diese typische Leere, wenn Gebäude schon länger nicht mehr besucht worden sind.

„Bis 1954 stand hier ein Augustiner-Nonnenkloster, ein Brand ließ nur den Kirchturm stehen“, sagt Wolfgang. Ein schwarz verkohlter Balken, der aus dem Kirchturm herausschaut, erinnert noch heute an das ehemalige Kirchenschiff. „1966 wurde an den Kirchturm ein neues Gebäude gebaut, das irgendwann als Hotel diente.“ Die Metamorphose eines Ortes, denke ich und wir gehen weiter.

Der Kirchturm der Pfarrkirche St. Nikolaus schlägt 21 Uhr.
„Versprechen kann ich dir nichts. Das letzte Mal habe ich die Tiere vor zwei Jahren gesehen.“
„Abwarten“, sage ich zuversichtlich.
Wir setzen uns noch einen Moment an den Rhein, beobachten wie die letzten Sonnenstrahlen verschwinden. Der Himmel ist in verschiedene Blautöne gefärbt, der Rhein fließt ruhig, schimmert beinahe wie ein See. Wolfgang zündet sich eine Zigarette an: „Der Blick auf Boppard von hier ist wirklich sehr schön.“
Der umgekehrte Vier-Seen-Blick, denke ich und schaue auf die Laternenlichter, die mit der Dunkelheit immer heller werden.

Wolfang ist fasziniert von Natur und Geschichte, das treibt ihn um, lässt ihn forschen, viele Fotos machen, immer mit Neugierde die Welt betrachten.
„Die Leute sind oft sehr begeistert von meinen Naturbildern und fragen sich, wo man solche Aufnahmen machen kann. Das ist ganz einfach: man muss nur richtig hinsehen.“ Und das kann Wolfgang, er hat ein gutes Gespür für Orte, Tiere und Insekten. Eine besondere Kamera habe er nicht, sagt er mir. Aber das richtige Auge, er sieht, was andere nicht sehen.

„Komm wir brechen auf, bald müssten die Ersten hinausflattern“, sagt Wolfgang, „Das hier wird uns helfen.“ Mit „das hier“ meint er einen Fledermausdetektor. So etwas gibt es wirklich, wundere ich mich.
„Das Gerät erkennt die Ultraschallwellen, die die Tiere aussenden, und wandelt diese in niedrigere Frequenzen um. So können wir hören, wenn eine Fledermaus in der Nähe ist“, erklärt er mir. Fledermäuse können Frequenzen zwischen 9 kHz und 200 kHz ausstoßen, unser menschliches Ohr hört dagegen nur in einem Bereich zwischen 16 Hz und 18 kHz. Den Detektor stellt Wolfgang auf 31 kHz ein, das sei in etwa die Frequenz, in der das Große Mausohr rufe.

Wir setzen uns in eine kleine Gasse vor das Kirchenschiff. Hier hat man eine gute Sicht auf den Turm, aus dem die Tiere kommen sollen. Es ist mittlerweile 21.30 Uhr.
„Die Hitze in diesem Jahr wird einige Jungtiere getötet haben“, sagt Wolfgang. Zwischen 700 und 800 Jungtiere gebe es jedes Jahr. Unter dem Dachstuhl wohnen nur die Weibchen mit ihrem Nachwuchs, das seien sogenannte Wochenstubenkolonien.
„Die Sommerquartiere sind bei Fledermausweibchen und –männchen also getrennt?“
„Ja, lange würde es ein Männchen dort oben nicht aushalten, die werden sofort am Geruch erkannt und verbissen“, lacht er.

Und dann auf einmal schlägt der Detektor aus. Doch das, was wir sehen, ist kein Großes Mausohr, sondern eine Zwergfledermaus.
„Die Zwergfledermaus ist viel kleiner, die ist nur vier Zentimeter groß“, kommentiert Wolfgang, „und wiegt vielleicht fünf Gramm.“ So viel wiegt gerade mal ein ein 20-Cent-Stück, schaue ich später nach.
„Die meisten Menschen, die hier wohnen, wissen gar nichts von dieser großen Kolonie.“
Und dann schlägt der Detektor ein zweites Mal aus. Dieses Mal ist es ein Großes Mausohr. Das Tier flattert direkt über meinen Kopf und ich zucke zusammen. Wolfgang lacht:
„Du musst keine Angst haben, die sind so wendig und geschickt, die würden dich nie berühren.“
Das Große Mausohr hat im Gegensatz zur Zwergfledermaus eine Größe von bis zu acht Zentimetern und eine Flügelspannweite von bis zu 40 Zentimetern. Nicht gerade klein.
„Naja, aber die haben spitze Zähne“, sage ich.
„Die können einen schon blutig beißen, aber das machen sie nur, wenn man sie fängt. Ansonsten brauchen die Fledermäuse ihre spitzen Zähne für die Chitinpanzer der Käfer“, sagt Wolfgang lächelnd zu meinen Bedenken.

Mittlerweile schlägt der Detektor regelmäßig aus und immer mehr Tiere flattern aus dem Kirchturm. Die Weibchen jagen nachts in den Weinbergen auf beiden Seiten des Rheins, ihr Jagdhabitat liegt in einem Umfeld von vier bis 17 Kilometern.
„Jedes Tier hat seine Vorlieben, manche fliegen direkt in den Weinberg, manche versuchen ihr Glück bei den sich unter den Straßenlaternen versammelnden Nachtfaltern.“ Die Hauptnahrung des Großen Mausohrs seien Spinnentiere, Hundertfüßler oder der Carabus, der Großlaufkäfer, so Wolfgang.
„Und die fliegen auch nicht alle gleichzeitig aus, wie du siehst. Das ist wie bei uns Menschen: es gibt Frühaufsteher und welche, die noch lieber hängen bleiben.“

Das Überkopf-Hängen sei eine passive Haltung, erklärt er mir. Daher könne man auch tote Tiere finden, die nach ihrem Ableben noch immer am Dachstuhl hängen.
Wir sitzen noch eine Weile auf dem Asphaltboden der kleinen Gasse und beobachten die Fledermäuse, die weiterhin den Kirchturm verlassen.
„Das wird noch eine Weile dauern, bis die meisten Weibchen draußen sind.“

Später lese ich nach, dass Fledertiere, zu denen an die 1000 Fledermausarten gehören, die einzigen Säugetiere sind, die aktiv fliegen können. Auf manchen Inseln waren sie bis zur Ansiedlung des Menschen auch die einzigen Säugetiere.
Und die Blutsaugenden unter ihnen gibt es tatsächlich: die Vampirfledermäuse. Allerdings lebt diese Art in Südamerika und nicht in den hiesigen Gemäuern.

„Ein Fledermaushotel“, sagt Wolfgang am Ende. Die zweite Metamorphose eines Ortes für heute.
Gegen 22 Uhr brechen wir auf: Die letzte Fähre fährt nämlich eine halbe Stunde später. Der abnehmende Vollmond liegt zwischen den Wolken und Wolfgang macht ein letztes Foto für den Abend.

Zurück in meinem Burgturm will ich gerade schreiben, dass ich die Stille genieße. Doch das ist nicht wahr, still ist es hier nicht. Das Holz über mir knarzt laut und ein Tier macht seltsame Rufe, eine Fledermaus wird es nicht sein. Zuordnen kann ich die Rufe trotzdem nicht, da mir das nötige Artenwissen fehlt. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster, klappe dann den Laptop zu und muss noch eine Weile an die faszinierenden Flatterwesen denken.

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