Luz del Rhein – das Licht am Rhein

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„Moriré aquí“ – hier werde ich sterben, sagt Anna und lächelt mich an.

Wir begegneten uns eine Woche zuvor, ich lief auf der Burgmauer in Bacharach entlang, während sie mit ihrer Familie auf der selbigen zu Abend aß: Reis, Tortilla, dünn gebratenes Fleisch. Es war spät abends, für deutsche Verhältnisse wäre es ein Mitternachtsmahl gewesen.
Ich setzte mich für einen Moment zu Anna und ihrer Familie an den Tisch, hörte ihren Gesprächen zu, war jedoch müde und sagte, dass ich wiederkommen werde. Anna bot mir an dem Abend an, einmal zu kellnern – und ich nahm an.

Als ich nach einer Woche wiederkomme, um Essen und Trinken auf die Tische zu bringen, lässt man mich aber nicht. Ich soll zuhören. Also setze ich mich an die Bar und tue eben dies, höre zu.

Anna betreibt mit ihrer Familie ein spanisches Restaurant in Bacharach. Hace dos meses – seit zwei Monaten, sagt sie, während laut ein Güterzug vorbeirattert. Wenn Anna redet, fließen immer wieder spanische Sätze ein, hin und wieder wechselt sie komplett ins Spanische.

Den Ort Bacharach möge sie gerne. Den Rhein vor der Haustür zu haben sowie das angenehme Klima. Deutschland gefalle ihr. No volveré a la Republica Dominicana. Moriré aquí.

In die Dominikanische Republik wolle sie nicht zurückkehren, sondern bis zu ihrem Lebensende bleiben. 1993 ist Anna nach Europa gekommen. Mas que veinte años vivo aqui – seit mehr als 20 Jahren lebe sie hier, mit „hier“ meint sie Deutschland, Mainz, Bacharach. Eigentlich heißt Anna „Altagracia“. Das bedeutet im Spanischen „von hohem Anmut“. Den Namen trägt sie zurecht, wie ich finde. Doch sie wolle nur Anna genannt werden.

Die Zeit in der Dominikanischen Republik sei hart gewesen. Mit Mitte 20 verließ sie ihren Ehemann, nahm die vier gemeinsamen Kinder mit.
Mi vida fue muy duro (Mein Leben war sehr schwer) In einem Land, in dem 24 Prozent der Bevölkerung an Unterernährung leidet, es kaum Arbeit gibt und knapp 60 Prozent der Menschen katholischen Glaubens sind, verlässt man seinen Ehemann nicht einfach so.

Für vier Kinder zu sorgen bedeutete für Anna um 5 Uhr aufstehen, um 18 Uhr wiederkommen. Dazwischen lag die Arbeit auf dem Campo – dem Feld, den Plantagen, auf denen Kaffee, Kakao und Bananen angebaut werden. Außerdem arbeitete sie als Hauswärterin, kümmerte sich um die Finca einer Familie.

Ihre Tochter Angela kümmerte sich mit 8 Jahren um ihre drei jüngeren Brüder. Sie legte die Schuluniform zurecht, die Pflicht in der Dominikanischen Republik ist, und bereitete das Mittagessen zu. Podiá cocinar arroz con ocho años – mit acht Jahren konnte sie schon Reis kochen, sagt Anna stolz.
Cocinar y planchar, kochen und bügeln, fügt Angela hinzu.

„Angela, wie war das für dich, mit 8 Jahren auf deine Brüder aufzupassen?“, frage ich.
„Das machst du eben.“
„Und haben deine Brüder auf dich gehört?“
Sie lacht.
„Meistens schon. Nur der Jüngste… fue un rebel.“

Als Angela 14 Jahre war, ging ihre Mutter Anna nach Deutschland. Ihre vier Kinder ließ sie zunächst bei einer Bekannten. Anna sendete Geld in die alte Heimat, um ihren Kindern eine bessere Schullaufbahn, ein besseres Leben zu ermöglichen. In der Gastronomie verdient man auch in Deutschland nicht viel Geld. Aber in einem Land in dem manche Menschen von zwei Dollar am Tag leben, ist es eben doch viel.

Die meisten Menschen in der Dominikanischen Republik haben Verwandte in der ganzen Welt, die ihnen Geld senden. Kinder wachsen bei ihren Großeltern oder Bekannten auf, während die Eltern das Land verlassen, um für ein besseres Leben ihrer Kinder zu arbeiten.

Ab 2009 kamen dann alle vier Kinder nacheinander zu ihrer Mutter Anna nach Deutschland.

Angela hat selbst eine Tochter – Rocío. Sie steht hinter der Theke und hilft Servietten zu falten. Sie ist so alt wie Angela war, als ihre Mutter nach Europa gegangen ist.
Rocío sieht mich an: „Ich weiß gar nicht, wie Doña das alles geschafft hat. Das weiß keiner.“
„Du nennst deine Oma „Doña“?“
„Ja, das tun wir alle.“ So spricht man respektvoll das Familienoberhaupt an.

Den Händen von Anna sieht man die harte Arbeit auf dem Feld an. Doch ihre dunklen Augen sind voller Energie, sie leuchten, wenn sie spricht. Überhaupt geht von dieser Frau eine enorme Kraft aus.
Ich frage mich, wie alt Anna ist.
„In meinem Pass steht: 3.12.1961“
„Im Dezember wirst du 58 Jahre.“ No lo pareces, denke ich. Anna wirkt viel jünger.

Ihren ersten Job habe sie in Deutschland als Zimmermädchen gehabt, danach habe sie begonnen, in der Gastronomie zu arbeiten, sagt Anna mir. Zunächst als Küchengehilfin und irgendwann wurde sie Küchenchefin, jetzt ist sie die Restaurant-Inhaberin.
Eine Ausbildung habe sie nicht gemacht, viel mehr habe das Leben sie gelehrt.
„La vida, das Leben und die Praxis haben mich geformt.“

Auf dem Tresen steht ein kleiner goldener Engel, der gibt Anna die Hoffnung immer weiter zu machen, nicht aufzugeben. Der Glaube ist in der Dominikanischen Republik stark in der Gesellschaft verankert. Ihn trägt man im Herzen.

Am Ende nimmt Anna meine Hände zwischen ihre und sagt: „Voy para allá hacer tortillas de patata“, und geht dann in das untere Stockwerk, um zu kochen.

Während Anna also Kartoffeltortillas macht, bleibe ich noch einen Moment an der Bar sitzen, schaue Angela zu, wie sie Sangria zubereitet.
„In Deutschland leben viele Menschen nur für die Arbeit und alles ist auf die zwei Wochen Urlaub im Jahr ausgerichtet. Das ist schade.“
Angela schneidet feine Apfelstücke und lächelt: „Yo disfruto mi vida, cuando puedo.“ – Ich genieße mein Leben, wenn ich kann. Zurückkehren, das wolle sie auch nicht.

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