Hörst Du die Uhren ticken?

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An der Wohnzimmerwand von Doris Spormann hängen Taschenuhren. Viele: große, kleine, mit römischen Ziffern, mit arabischen Ziffern, manche sind verziert, andere schlicht gehalten. Sie machen keine Geräusche, aber es fühlt sich so an. Als würden sie sagen: Die Zeit läuft – hörst du nicht die Uhren ticken?

Doris Spormann ist 70 Jahre alt und sie widmet ihr Leben dem jüdischen Dasein am Mittelrheintal, den jüdischen Bürgern, die hier einst lebten. Damit ist eigentlich alles gesagt. Eigentlich. Doris erzählt mir schon am Telefon, dass sie ein größeres Archiv pflege. Daher sei es besser, sich bei ihr zu Hause zu treffen.

Es ist neblig und der erste Frost lässt die Gräser und Sträucher an den Seiten der B9 glitzern. Auf dem Rhein liegt ein trüber Schleier und ich bin auf dem Weg nach Biebernheim, wo Doris Spormann lebt. Der Stadtteil von St. Goar liegt unmittelbar am Steilhang zum Rheintal. Die Luft ist klar und kalt und von hier oben kann man wunderbar über den gegenüberliegenden Taunus blicken, die Augen über den Horizont wandern lassen.

Wie kommt man dazu, sein Leben einem Thema zu widmen? Das möchte ich von ihr wissen. Woher kommt diese Passion, dieser Wissensdurst, diese Leidenschaft?
Sie lacht. So genau wisse das nicht. Naja – nicht ganz, da gebe es die Geschichte mit der Nachbarin. „Als Kind hatte ich eine jüdische Nachbarin. Bei dieser war ich oft zum Kaffeetrinken oder habe mit ihr gespielt. Wenn andere von ihr sprachen, dann oft mit abgesenkter Stimme.“ Doris habe gespürt, dass da etwas sei. „Im ersten Schuljahr in Bingen wunderte ich mich, warum die Synagoge nicht wieder aufgebaut wurde.“ Man sagte Doris, es gebe genug Kirchen.
„Wissen Sie, Kinder haben ein gesundes Misstrauen, sie stellen die richtigen Fragen.“ Wenn man sie denn nur lässt, denke ich.

Doris Spormann kommt gebürtig aus Bingen, nach St. Goar ist sie aus Liebe gezogen. Mit ihrem Ehemann bewohnte sie ein Haus, das mal das Haus einer jüdischen Familie war.
„Wer war das? Wer hat hier gewohnt? Was wissen die Bürger über die ehemaligen Hausbesitzer?“, waren Fragen, die sich ihr automatisch stellten. Die pensionierte Rechtspflegerin machte sich auf die Suche.
„Ich hätte gerne Geschichte studiert, meine ganze Zeit professionell den Juden am Mittelrheintal gewidmet, aber dafür war damals kein Geld da. Ich machte Abitur und danach eine Ausbildung.“
„Meiner Meinung nach braucht man nicht zwingend ein Studium, um in einer Sache gut zu sein“, sage ich, „Leidenschaft und Interesse können einen viel weiterbringen.“
„Ja“, nickt Doris, es habe sie geehrt, als sie mal von einem Historiker auch als eine Historikerin bezeichnet wurde.

Wir sitzen an ihrem Wohnzimmertisch. Vor uns befindet sich ein Stapel Aktenordner, Bücher, verschiedene Ausgaben des Hansen-Blatts, zwei Kästen gefüllt mit Karteikarten.
„In den letzten Jahren war ich nicht mehr so aktiv. Doch wir wandern jetzt einmal über die verschiedenen Friedhöfe – auf dem Papier versteht sich.“
„Okay.“
„In Bornich waren Sie ja schon“, lächelt Doris wissend. Sie zeigt mir einen ihrer Lieblingsgrabsteine vom Bornicher Friedhof. Dieser ist mit einem Loch versehen, es sei ein sogenannter Notfallgrabstein, sagt sie.
„Den kenne ich“, mit Wolfgang Schmidt und Odelia Lazar stand ich vor nicht allzu langer Zeit vor eben diesem Stein. Das Loch in dem Schieferstein komme aus dem Bergbau, die Schrift sei nicht so sauber gesetzt. Es musste schnell gehen, der Stein wurde in Eile angefertigt, im Verborgenen, weil es verboten war, Juden zu helfen – zur Zeit des Nationalsozialismus.

Den Friedhof in Bornich besuchte Doris das erste Mal in den 1980er Jahren. „Da gab es noch keinen Holzzaun um das Gelände, dafür aber einen intakten Hochsitz direkt gegenüber.“ Mittlerweile steht der Holzzaun um den jüdischen Friedhof herum und der Hochsitz verfällt.
Sie begann damals die Grabsteine zu untersuchen, wollte wissen, wer diese Menschen waren, die in Bornich beerdigt wurden. Die Grabsteine waren für Doris Ausgangspunkt, um weiter zu recherchieren, mehr zu erfahren, zu forschen. Sie legte Karteikarten mit den Namen der Verstorbenen an, erstellte Familiendiagramme, Stammbäume. Sie schuf ein Netzwerk, das Vergangenheit und Gegenwart, das Mittelrheintal mit verschiedenen Orten dieser Welt verbindet.

„Friedhöfe sind geschichtliche Zeugnisse, Gräber planiert man nicht. Aber das wollen die Leute nicht hören“, sagt sie und blickt über ihre Ordner. In Kaub habe es mal einen jüdischen Friedhof gegeben, den habe man in den 1920er Jahren planiert. Der Grund: Er sei zu unordentlich respektive verwildert gewesen. „Vielleicht war das eine Idee des Dorfverschönerungsvereins“, fügt Doris hinzu und ihre blauen Augen sehen mich ernst an, „In der Zeit des Nationalsozialismus war das dann natürlich willkommen.“ Es gab noch weitere Friedhöfe im Mittelrheintal, von den meisten sei allerdings nicht mehr als ein Lageplan übrig.

Doris Spormann hat schwarze Haare und einen klaren Blick. Wir schauen durch ihre großen Wohnzimmerfenster in ihren Garten.
„Ein Vogelparadies“, sage ich.
„Ja, ich halte nichts von der englischen Gartenpflege“, lacht sie.
„Ich auch nicht.“

In den 90er Jahren trat Doris in die Christlich-Jüdische Gesellschaft für Brüderlichkeit e. V. Koblenz ein und begann, Heimatbesuche zu organisieren. Das sind Besuche von Juden, die aus Deutschland in andere Länder immigriert sind, und nun noch einmal ihre alte Heimat oder die ihrer Eltern, Vorfahren, sehen möchten.

Doris kann von vielen ergreifenden Begegnungen erzählen, die letztendlich ihre Arbeit prägen und geprägt haben, sie vielleicht auch nicht mehr loslassen. Eine Begegnung rührt sie ganz besonders. Sie besuchte damals die Stadt Netanja in Israel. Dort begegnete ihr ein älterer Herr, der mitbekam, dass sie eine Deutsche aus dem Mittelrheintal war. Er wolle mehr wissen. Das Gespräch müsse aber in Englisch geführt werden, sagte er ihr, denn mit Deutschen habe er abgeschlossen. Und so sprachen sie in Englisch miteinander. „Mein Englisch war nicht das Beste und um Details zu erzählen, hat es nicht gereicht.“ Im Laufe des Gesprächs zitierte Doris dann Heinrichs Heine Ich hatte einst ein schönes Vaterland:

„Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft –
es war ein Traum.

Das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch
(man glaubt es kaum,
wie gut es klang) das Wort: „Ich liebe dich“ –
es war ein Traum.“

Für den Herrn war es wie eine Umarmung von dem, was mal Heimat war, von dem, was man ablehnen musste. Nach dem Gedicht sprachen die beiden Deutsch miteinander. Doris Augen leuchten, als sie mir davon erzählt, und man spürt deutlich, wie prägend dieser Moment für sie war.

Natürlich habe sie bei den ersten Heimatbesuchen der Juden Sorgen und Ängste gehabt. Man wollte schließlich nichts falsch machen. Koscher kochen, die jüdischen Speisegesetze einhalten, bloß den richtigen Ton treffen.
Da gab es beispielsweise die Familie Meyer, mit der sie nach Rüdesheim gefahren sind. Das Niederwald-Denkmal mit der Germania sollte selbstverständlich ausgespart bleiben. Die jüdische Familie machte sich dann jedoch alleine auf den Weg zum Denkmal. Später stellte sich heraus, dass die Vorfahren der Familie kaisertreu waren und der Besuch eine Verbindung zur Vergangenheit für sie war.
Doris Spormann hat viel über die diese Begegnungen gelernt. Jeder trage sein Gepäck mit sich, sagt sie, und wenn man dies wisse, könne man damit auch umgehen.

In ihrer Küche sitzt ein Papagei. Er kann sprechen und tut das im Binger Platt. Den habe sie nun schon seit 40 Jahren, 80 Jahre könnte er werden, dann müsse sie ihn wohl vererben, lächelt sie. Immer mal wieder ruft er etwas zu uns rüber.
„Jaja, der will jetzt Aufmerksamkeit“, sieht Doris mich an: „Bekommst du später“, fügt sie dem Papagei zugewandt hinzu und schließt die Küchentür sanft.

Viele jüdische Namen sind Herkunftsnamen, der bekannteste ist Rothschild. Früher habe man Hauszeichen gehabt statt Hausnummern und offiziellen Straßennamen, sagt Doris mir. Diese Zeichen waren zum Beispiel eine Lilie, ein Baum oder eben ein rotes Schild. Daher komme der bekannte jüdische Name Rothschild.
Kahn käme hingegen vom Stamm der Kohanim, diese gelten als direkte Nachfahren Aarons. Auf Grabsteinen mit dem Namen Kahn sehe man oft die segnenden Hände. Während Levi vom Stamm der Leviten kommt, diese übernehmen Tempeldienste oder Organisationsaufgaben im Judentum.

Dann widmen wir uns einem ganz besonderen Ordner: Yad Vashem. Es sind Gedenkblätter der „Gedenkstätte für den Holocaust und das Heldentum“.
All das bekommt so einen bitteren Beigeschmack, wenn man an die jüngsten Ereignisse denkt, die Wahlen im Osten, den Anschlag in Halle. Das Ticken der stillen Uhren wird wieder lauter.
„Niemand kann sagen, man habe nichts gewusst“, sagt Doris, „hier sind Deportationsdatum, Zug und Ort gelistet:
„Mayer Leo, Geburtsort Oberwesel, 31.10.1881
Ständiger Wohnort: Oberwesel
Beruf des Opfers: Weinhändler
Todesumstände: deportiert am 27.7.1942 von Koblenz nach Theresienstadt
Todesort: verschollen in Auschwitz“
In der linken Ecke klebt ein Bild des Opfers. Leo Mayer trägt eine dunkle, runde Brille. Sein Blick ist ernst, die Augenlieder fallen sanft ab. Er trägt ein Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett.

In einem zweiten Ordner befinden sich Bilder, Fotos jüdischer Bürger aus der Zeit des Nationalsozialismus und davor. Und auch ein Brief, ein Originalbrief. Die Fotos und den Brief habe sie von einem Nachfahren bei einem der Heimatbesuche erhalten. Der erste Ordner mit den Gedenkblättern, die Karteikarten, die Stammbäume und der Brief hängen alle miteinander zusammen, merke ich dann.
Der Brief ist von Rosa Meyer, er ist auf den 8.7.1942 datiert, deportiert wurde sie am 27.7.1942. Ich lese ihn zusammen mit Doris. Rosa Mayer wusste, was ihr bevorstand, wie sie ihn versenden konnte zu der Zeit, ist unklar.
In Doris Karteikartensammlung stehen die Transportliste, die Zugnummer und die Todesumstände von Rosa Mayer. Auch eins der Gedenkblätter trägt ihren Namen. Alles ist archiviert.

Zwischen den Taschenuhren an der Wand hinter uns hängen Malereien. Es sind impressionistische Öl-Bilder mit Motiven des Mittelrheintals. Tupfen und leichte Farben, ganz in Manier der französischen Maler.
„Erkennen Sie das Motiv?“, fragt sie mich.
Ich überlege kurz: „Der Marktplatz in Oberwesel?“
„Ja, genau.“
Die Zeit läuft. Alles ist zyklisch. Wirklich alles? Muss es diesen Hass und diese Menschenverachtung immer wieder geben? Haben wir nicht schon genug erlebt in diesem Land, auf diesem Planeten?

Ich blicke über die Ordner, die Bilder und den Brief. Doris fragt mich, ob ich noch mehr wissen möchte, aber ich muss das Gesehene und Gesagte erst einmal ankommen lassen, beschließe dann, nach St. Goar zu fahren. Ich gehe in der Fußgängerzone entlang und blicke in das Café mit den vielen Kaffeekannen.

Für die jüdischen Bürger, die die Heimatbesuche machten, war es damals sehr wichtig, noch einmal nach Deutschland zu kommen. Viele waren schon alt und krank, ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Doch sie mussten vor ihrem Tod noch einmal in ihre Heimat reisen, um zu sehen, dass dort nun eine andere Haltung existiert, ein anderes Leben möglich ist. Es ist wichtig, eben dies zu erhalten.

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