Ein Bopparder Junge mit anatolischen Wurzeln

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Mein erster Ausflug bringt mich nach Boppard. Vielleicht, weil der Ort ein wenig vertraut scheint, ich am Rhein entlangfahren kann und ich mich so an das Burgenbloggerin-Dasein rantasten will.

Und dann gibt es noch die zwei Mythen, von denen ich erfahren hatte: Einen Laden, der das ganze Jahr über Weihnachten feiert und eine Schokolaterie. Mir ist bewusst, dass das nicht unbedingt die Dinge sind, die man mit einem sonnigen Juni–Tag um die 26 Grad verbindet. Nun ja – aber es sind meine Gründe, um nach Boppard zu fahren.

Der erste Mythus klärt sich auf, als ich die Fußgängerzone betrete. Den Weihnachtsladen gibt es wirklich. Seit mittlerweile 30 Jahren wandern jeden Tag Nikoläuse, Christbaumkugeln und Lametta über die Ladentheke des „Christmas Shops“. Hauptsächlich an Touristen, wie ich vermute, denn wer sonst würde im Sommer einen katzengroßen Nussknacker kaufen? Ich verlasse den Laden dann doch schnell wieder, denn der süßlich schwere Geruch der Räucherkerzen ist mir dann doch zu viel Weihnachten in der Hitze.

Die Sckokolaterie hingegen bleibt ein Mythos. Es gibt zwar einen Schokoladenladen – seltsames Wort bei genauerer Betrachtung. Dieser Schokoladenladen ist jedoch viel mehr ein Kaffeehaus, als dass im Keller in liebevoller Manier Pralinen gegossen würden.

Ich gehe trotzdem hinein und lerne Ahmet, den Inhaber, kennen.

Ahmet betreibt den Schokoladenladen schon seit vier Jahren. Ich glaube mit Herzblut, denn zumindest leuchten seine Augen, wenn er von seinem Job redet. Nur manchmal sieht er müde aus, wenn er über seine verlorenen Liebe spricht oder die vier Jahre ohne Urlaub – was in der Gastronomie eben einfach passiert.

Während Ahmet aufspringt, um eine Lieferung entgegen zu nehmen, sehe ich mich um. Die Wände des Cafés sind mit einer Tapete aus roten Barockblumen versehen. Ein weißer Tresen zieht sich durch das ganze Café und hinter mir vereint sich die Welt in Schokoladentafeln – 85% Kakaoanteil aus Ecuador, Vollmilch aus der Schweiz, Pfefferschokolade aus Frankreich. Die Kaffeemühlen zerknirschen laut die Bohnen und Tassen klimpern. Griechische Popmusik läuft im Hintergrund. Es ist viel los und neben Ahmet sind noch drei weitere Kellner da.

Ich will von Ahmet wissen, was ihn nach Boppard bringt und wie es sich hier leben lässt.

Schnell stellt sich heraus, Ahmet ist ein richtiger „Bopparder-Jung.“ Er ist hier geboren und aufgewachsen. Seine Eltern sind aus Südost-Anatolien in den 1970er Jahren nach Deutschland ausgewandert. Sein Vater war Hirte, seine Mutter Bäuerin. Ohne ein Wort Deutsch zu können. Und vor allem ohne Lesen oder Schreiben zu können. Ganz schön mutig, ganz schöner Kulturschock und vor allem aus einer ganz schön großen Not heraus, denke ich.

„Ja“, sagt Ahmet, „eigentlich wollten sie nicht lange bleiben, das Geld, das sie verdienten, schickten sie an ihre Familie in die Türkei. Aber irgendwann waren wir Kinder da, dann waren wir groß, hatten selbst Kinder und so sind meine Eltern eben geblieben.“

Boppard ist Ahmets Heimat. Eine Zeit lang lebte er in Frankfurt, arbeitete am Flughafen im Security Service. Aber die Menschen, sagt er, seien in Frankfurt viel zu oberflächlich gewesen. Banker sind nur unter Bankern, Portugiesen nur unter Portugiesen, Bornheimer nur unter Bornheimern und er sei eben nur der Türke vom Security Service gewesen. Ihm fehlten ehrliche Begegnungen und vielleicht auch Freunde.

Hier in Boppard ist Ahmet die Seele des Markplatzes. Alle paar Minuten kommt jemand rein und grüßt ihn oder winkt ihm von der Straße aus zu. Zu jedem kann er kleine Geschichte erzählen. Er ist mit der Stadt verbunden, das spürt man ganz deutlich, ob nun über den Sport „wenn ich denn mal Zeit habe, dann spiele ich Fußball“ oder über seine Freunde bei der Öl- & Senfmühle, einer Behindertenhilfe, „die wirklich großartige Arbeit leistet.“

Ahmet erzählt mir, dass es in Boppard mal über 150 Gaststätten mit Ausschankgenehmigung gab. Boppard war der Hot Pot des Mittelrheintals. Die Amerikaner kamen von ihrer Base in Kastellaun, die Holländer mit den Booten. Drogen, Partys, Nachtleben. Ich kann ihm kaum glauben, denn wenn ich über den Marktplatz blicke, liegt das Durchschnittsalter milde gesagt bei über 50 Jahren.

Er lacht, „ja, was war einmal. Heute ist es still in Boppard.“

Ich sage ihm, dass ich glaube, dass alle Orte eine Blütezeit haben, sie irgendwie sterben, dann aber wiederkommen. Wie bei einer Pflanze, der man zum erneuten Aufblühen die Zweige stutzen muss. Ahmet lacht und zuckt die Schultern, „Ja, kann schon sein.“

Bevor ich gehe, will ich noch wissen, warum er den Job macht. „Aus Egoismus“, sagt er verschmitzt grinsend. Ich bin verwirrt. „Hat nicht Nietzsche gesagt, der Helfer, sei der größte Egoist unter den Menschen?“ Diesmal zucke ich die Schultern. Ahmet hört seinen Gästen gerne zu, sagt er. Als Barmann ist man Psychologe, Bruder, bester Freund oder einfach nur eine Schulter zum Anlehnen in einem. „Und irgendwie tut das gut.“

Ob das nun Egoismus sei, frage ich ihn. „Vielleicht auch nicht. Aber es gibt Menschen, die helfen, damit sie sich selbst besser fühlen. Aber ich glaube, das tue ich nicht.“ Für den Moment, den ich Ahmet kennen lernen durfte, würde ich ihm recht geben.

Und dann fügt er noch an: „Weißt du, jeder hat seine Art und Weise den Kaffee umzurühren, den Milchschaum vom Löffel zu lecken, ihn wieder neben die Tasse zu legen. Das ist einfach herrlich zu beobachten.“ Ja, es sind die feinen Unterschiede, die Mimik und Gestiken in uns, die uns unterscheiden aber auch vereinen, die ihn faszinieren.

Am Ende trinke ich dann doch einen Frozen Chai und keine heiße Schokolade, bedanke mich bei Ahmet und flaniere durch Boppard. Dabei lasse ich meine Fantasie spielen und versuche mir vorzustellen, wie die gestutzte Pflanze am Mittelrhein wieder aufblühen könnte.

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