Die freundliche Ethnologin

von

Seit einigen Wochen beobachte ich dieses Tal. Mir fallen viele kleine Dinge auf, die ich hier teile. Am Ende dieses Textes will ich ein Experiment wagen: Du bist Mittelrheiner, wenn…

Was gibt es über das Mittelrheintal zu erzählen, außer all dem, was neulich in der FAZ stand? Wenn man genau hinschaut, sieht man Strukturen, mal große Gräben, mal kleine Hubbel. Wie eine Forscherin versuche ich meine Umgebung zu beschreiben. Geleitet von der Frage: Wie würden Aliens das Mittelrheintal sehen?

IMG_1186
Am Bacharacher Rheinstrand: Enge und Weite. Charme und Siff. Die alle wohnen hier. Und wer noch?

Von oben betrachtet: Die Orte am Mittelrhein sind Bandwurmdörfer. Sie ziehen sich wie Kaugummifäden wahlweise an der Bundesstraße oder am Rheinufer entlang. Das sorgt für Entzerrung. Und verhindert Ortskerne. Die Häuser stehen nicht beieinander, sie reihen sich hintereinander auf. Eine Dorfmitte erkennt man kaum. Stattdessen gibt es T-Kreuzungen. Ein Bürgermeister sagt: „Am Mittelrhein gibt’s kein Miteinander“. Wenn es hier Wachstum gab, dann nicht in konzentrischen Kreisen, sondern stets in Bandwurmrichtung.

Für den Alltag im Mittelrheintal braucht man ein Auto. Die Entfernungen sind einfach zu groß. Auf den gelben Ortsausgangsschildern stehen oft zweistellige Zahlen als Entfernungsangaben bis zur nächsten Stadt. In Bingen steht: Boppard 30 Kilometer. In Bacharach steht: St. Goar 13 Kilometer. Dazwischen sind Hügel und Weinreben. Im Mittelrheintal sieht man kaum Busse fahren. Ein paar Freiwillige haben sich zusammengeschlossen, um den Viertälerbus ehrenamtlich durch die Gegend zu lenken. Man kann anrufen und wird zum Arzt gefahren. Die Nummer steht im Amtsblatt. Wer trampen will, steht lange am Straßenrand im Mittelrheintal.

IMG_1198
Geträumt wird von früher. Nur nennt es hier keiner Vintage oder Retro. Hier eine Postkarte aus Niederheimbach

Die Menschen hier träumen von den Zeiten vor der Verwaltungsreform. Sie sind unglücklich damit, wie die Dörfer in Verbandsgemeinden zusammengelegt wurden. Das erkennt man an den Autokennzeichen. Seit zwei Jahren gibt es wieder welche mit dem Kennzeichen GOA, das steht für St. Goar. Normalerweise hätten die Autofahrer dort das Kennzeichen SIM für Simmern. Das liegt jedoch oben auf dem Hunsrück, weit weg. Viele Menschen in St. Goar sind also extra zum Amt gefahren, um ein neues, altes Schild zu beantragen. Wer GOA fährt, ist Lokalpatriot.

Abends ist die linke Rheinseite in Schatten getaucht. Die Sonne verschwindet rasch hinter den Hügeln. Die Leute schauen dann auf die sonnige rechte Rheinseite und sagen: „Wir haben es besser als die da drüben, wir schauen in die Sonne, die müssen in Dunkle starren.“ Auf der rechten Rheinseite sagen die Leute: „Wir haben es besser. Wir haben abends hier das Licht, wir sind die Sonnenkönige.“

Um Nahrungsmittel zu besorgen, müssen die Mittelrheiner weit fahren. In vielen Orten gibt es keinen Supermarkt, auch keinen Tante-Emma-Laden mehr. Dafür gibt eine Pizzeria auf Rädern und einen mobilen Nahrungsmittelverkäufer, die durchs Tal fahren, um ältere Leute zu versorgen. Von Niederheimbach sind es 12 Kilometer bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft. Die meisten Niederheimbacher fahren aber lieber nach Oberwesel anstatt nach Bingen. Oberwesel liegt auch 12 Kilometer entfernt, ist aber kleiner. Doch es liegt gefühlt näher. In Bingen ist doch nichts, sagen sie hier.

IMG_1180
Auf Instagram hat eine Leserin des Burgenblogs jetzt den Hashtag #Mittelrheinsiff eingeführt. Unter anderem für dieses Bild.

An Restauranttischen sitzt man gesellig. Man geht in Strausswirtschaften. Getrunken wird Wein, gegessen Schlachtplatte oder Spundekäs. Manche reden Platt. Kommen neue Gäste, rückt man auf am Tisch. Für die aus dem Ort zumindest. Wer als Zugezogener ein Hotel oder Restaurant eröffnet, wird lange beäugt, begutachtet. Der Prozess der Assimilierung ist ebenfalls zäh wie Kaugummi. Eine Stolzenfelserin wohnt seit 32 Jahren in Oberwesel. Sie nennt sich noch immer Zugezogene. Über ihren Sohn wussten die Schulkameraden stets: Der Vater ist von hier, die Mutter ist zugezogen.

Heimat ist nicht erlernbar. Identität ist etwas Überpersönliches.

Für eine Außenstehende ist das Mittelrheintal ein Wäschekorb: Lauter Sockenpaare, die nicht zusammengehören. Die Ethnologin in mir hat nicht bloß einen unentdeckten Indianerstamm vor sich, sondern gleich dutzende. Langsam verstehe ich, wie die Oberweseler sich definieren. Was die Kauber von sich halten. Aber was sie alle zu Mittelrheinern macht, ist mir ein Rätsel. Das Welterbe? Der Wein? Die Loreley? Eher nicht. Was sind im Alltag die Konstanten im mittelrheinischen Leben, rechts- und linksrheinisch? Was macht euch nicht nur typisch Filsener, typisch Trechtingshausener – sondern was macht euch typisch Mittelrheiner? Woran erkennt ihr euch?

In anderen Gegenden gibt es Facebookgruppen, die sehr beliebt sind. Sie heißen: „Du bist Lehrter, wenn…“ oder „Du weißt, dass du aus Aalen bist, wenn„. Es gibt solche Gemeinschaften für viele Orte wie Bayreuth, Harburg, Frankfurt. Die haben viele tausend Mitglieder. In Berlin schicken Leser alte Fotos an ein Vintage-Tumblr und erzählen Geschichten dazu. Mancherorts ist dadurch ein kollektives Gedächtnis einer vernachlässigten Region entstanden. Vielleicht klappt es auch hier. Ich habe jetzt eine Gruppe eingerichtet fürs Mittelrheintal. Die gab es nämlich noch nicht.

Bildschirmfoto 2015-06-12 um 17.15.32
Es gibt jetzt diese Gruppe auf Facebook: „Du weißt, du kommst vom Mittelrhein, wenn…“

Dort kann jeder Beiträge einstellen und sagen, woran man erkennt, dass man Mittelrheiner ist. Man kann alte Postkarten teilen, Trinksprüche, Kindheitserinnerungen. Bitte beginnt euren Beitrag mit dem Satz: „Du weißt, du kommst, vom Mittelrhein“ oder „Du bist Mittelrheiner, wenn…“ Es ist ein Experiment. Es herrscht dort eine Netiquette. Verwalten werde ich die Seite nicht. Ich freue mich, dass einige von denen, die mir in den vergangenen Tagen Unterstützung zugesagt haben, die Moderation übernehmen. Ich bin gespannt, was die Mittelrheiner dort so von sich erzählen.

11 Kommentare

  • dino schmidt says:

    tolle seite hier es gäbe noch viel zu erzählen und ich bin auch zugezogen vor einigen jahren sie haben es super genau beschrieben …nicht zu vergessen ist auch der morbide chame an einigen stellen im mittelrheintal leider sind viele orte und stellen in einem schlechten zustand ….

  • Markus says:

    Muss ich mich wirklich als „Mittelrheiner“ bezeichnen lassen? Hier schaffen es Politiker (egal auf welcher Ebene) nicht eine Brücke zum anderen Ufer zu schlagen. Wie wollen sie die Menschen erreichen? Die Orte der andern Rheinseite sind jeweils so weit weg wie Frankfurt am Main. Die leidlichen Fährverbindungen stellen für mich ein Hindernis dar. Muss eine Region zusammenwachsen, nur weil es ins Marketing passt? Das Marketing wird sich ja noch nicht einmal über eine einheitliche Ferienkarte einig? Haben Sie schon einmal die versifften Campingplätze entlang der Rheinschiene besucht? Möchte ich hier Urlaub machen? Wann greift hier das Marketing ein? Ich kann kein Image aufbauen, ohne das Versprechen auch einlösen zu können. Nicht jeder steht auf den Charme der 1960er Jahre. Wie soll Zusammenhalt einer Region entstehen, wenn sich die Leute innerhalb eines Ortes nicht mal mehr grüßen. Will ich wirklich „Mittelrheiner “ sein?

  • Mona Jung says:

    Mir fällt nur ein Thema ein, dass alle Mittelrheiner eint, der Bahnlärm. Vieleicht ist auch deshalb dieses Thema so enorm wichtig.

    • Tim says:

      Ist es das? Vielleicht sollten Sie sich mal die Facebook Gruppe ansehen. Da war bisher das Thema Bahnlärm oder Brücke nur beiläufig mal Thema, ansonsten gibt es ganz viele andere Dinge die uns einen.

    • Mona Jung says:

      Hallo Tim,
      als nicht Facebookmitglied komme ich in die Seite nicht rein. Sehr schade. Gibt es nicht eine Möglichkeit die Beiträge auf der Burgenbloggerseite zu veröffentlichen ?
      Ich finde es doof, dass man Facebookmitglied werden muss, was ich nicht möchte, um von der Diskussion etwas mitzubekommen.

    • Tim says:

      Ja das sehe ich auch als Problem an. Nicht jeder hat Facebook oder will Facebook. Aber scheinbar geht heute nichts mehr ohne?! Ich hab festgestellt dass manche Facebook Seiten besser gepflegt werden als die eigentlichen Web Seiten.
      Die Facebook Gruppe ist aber öffentlich, und ich glaube da kann man auch als Nichtmitglied rein schauen. Bin mir aber nicht ganz sicher.
      Ich hab mir auch schon oft gedacht dass es nicht schlecht wäre wenn Facebook Kommentare hier auch angezeigt werden könnten. Ich kenne ein paar Leute die tatsächlich nur hier diesen Blogg verfolgen und die Diskussion bei FB gar nicht mitbekommen. Was aber die Inhalte der Gruppe angeht ist es etwas viel glaube ich um es hier anzeigen zu lassen.

  • Liebe Burgenbloggerin,

    vielen Dank für Ihre bisherige Arbeit. Es lohnt sich, den Blick auf das Tal zu erweitern. Ich gehe jeden Sonntag im Binger Wald wandern. Von dort hat man an vielen Stellen einen herrlichen Blick auf das Rheintal. Einkehren kann man dann in der Lauschhütte, im Jägerhaus oder im Waldfrieden – ohne Bahnlärm oder Straßenverkehr. Himmlische Ruhe, kein Siff und von oben wirkt der Rhein ganz anders als aus der unmittelbaren Uferperspektive.

    Wie man es richtig macht, zeigt seit einigen Jahren Bingen: Das Ufer ist mit Grünanlagen, Gastronomie und Kunst neu gestaltet worden und dem Bahnverkehr wurde mit leisen Zügen und Lärmschutzwänden der Zahn gezogen.

    Mein Tipp: Laufen Sie doch einmal von Trechtingshausen / Burg Reichenstein durch das malerische Morgenbachtal und schauen Sie sich die geschnitzten Fabelwesen in der Steckeschlääferklamm an. Dort finden Sie die Rheinromantik, die man auf der Loreley oder an der Bahntrasse seit hundert Jahren nicht mehr kennt.

  • Thorsten Fuchs says:

    Hallo Frau Schoper ich folge ihren Burgenblogg schon von anfangan.Und zum diesen Blog muss ich sagen das ich es sehr interessant finde das sie als Zugereiste so was wagen eine Gruppe zu gründen für die Mittelrheintäler.Ich habe durch ihr blog mittlerweile ein ganz andren Blick auf das Mittelrheintal bekommen.Bei mir in meiner Heimatstadt gibt es auch so eine Gruppe und die hat über 2200 Mitglieder bei einer Stadt mit 13 000 Einwohner es sind viel auch bei der Gruppe dabei wo in der Stadt gewohnt haben und jetzt wo anders Wohnen. Die Gruppe wird auch von den örtlichen Presse unterstützt. Es war auch schon oft was aus der Gruppe in der Zeitung z.b wenn es wo Probleme gegeben hat. Es es aus Veranstaltungen hingewiesen.Ihn meiner Stadt gibt es auch ein extra Genzeichen seit 2 Jahr wieder es gibt viel Bürgen die das gleich nach den Erscheinen sich besorgt haben weil sie sich mit ihrer Stadt verbunden fühlen. Ich finde auch es gut das wie z b in Mittelrheintal eine von ausen das alles beurteilt.Ich hoffe das ihre Gruppe viele Mitglieder bekommt und sie auch mal wieder was über diese Gruppe schreiben werden.

    MfG
    T. F.

  • Ralf alt says:

    Man rückt auch für Fremde am Tisch zusammen liebe Jessica. In der historischen warst du uns ein willkommener Gast,so wie viele andere die nicht vom hier sind
    Liebe Grüße Ralf (Oberwesel)