Stationen einer Flucht

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Wer Anas und Sonja gemeinsam in der Küche erlebt, könnte annehmen, die beiden seien Mutter und Sohn. Sie albern herum, necken sich gegenseitig, lachen zusammen. Obwohl Anas mittlerweile in Ingelheim wohnt, kommt er oft zurück nach Steeg, einem Ortsteil von Bacharach, um Sonja zu besuchen. Um mit ihr gemeinsam zu lernen. Oder einfach nur, um sie wiederzusehen. Anas hat in Steeg Freunde gefunden. Wenn er über die Straße geht, grüßen ihn die Leute, umarmen ihn, reden mit ihm. Er wird nirgendwo wieder so gut vernetzt sein, glaubt er.

Anas Dababo ist 24 Jahre alt. Der junge Syrer ist seit drei Jahren in Deutschland. Die Behörden haben ihn damals nach Steeg vermittelt, wo er bei Eckhard Zahn und Sonja Theobald-Zahn untergekommen ist. Die beiden betreiben das Weingut „Zur Fledermaus“, wozu auch ein Gästehaus gehört. Anas beginnt schnell, sich zu integrieren. Er tanzt bei einer Fastnachtsgruppe mit, kellnert in einem Lokal in Bacharach und kocht beim Steeger Weinblütenfest typisch syrische Speisen für die Gäste.

Ich lerne Anas beim Weinblütenfest Mitte Juni kennen. Wir reden ein bisschen, dann muss er wieder zurück an die Arbeit. Seine Gäste warten. Anas hinterlässt sofort Eindruck bei mir. Seine Geschichte bekomme ich aber in meinem Text über das Steeger Weinblütenfest nicht untergebracht. Zu meinem Bedauern passt es thematisch einfach nicht rein.

Seit einem Jahr macht Anas nun eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement bei Boehringer in Ingelheim. Sein Ausbildungsleiter ist so beeindruckt von seinem Engagement, dass er Anas kurzerhand für den Wettbewerb „Azubi Star 2018“ der Industrie- und Handelskammer Rheinhessen nominiert hat. Teilnahmebedingung ist es, dass die Nominierten ein Video einreichen. Sonja fragt mich, ob ich Anas dabei helfen kann. Ich treffe ihn also wieder, lerne ihn ein bisschen besser kennen. Gemeinsam mit Anas, Sonja und einem Freund von mir haben wir schließlich dieses Video kreiert.

Auch in Ingelheim ist Anas mittlerweile gut angekommen. Er lebt dort gemeinsam mit anderen Azubis in einer Wohngemeinschaft. Wenn er dort kocht, dann syrisch. „Deutsches Essen kennen die ja alle schon“, sagt Anas und grinst. Bereits in Syrien war der 24-Jährige sportlich sehr aktiv. Das führt er auch hier weiter. Beinahe täglich trainiert er. Laufen, Radfahren, Schwimmen – die klassischen Triathlon-Disziplinen. Ins Fitnessstudio geht Anas auch. Das alles tut er mit einer ungeheuren Disziplin. „Wenn er im Wasser ist, ist er ein ganz anderer Mensch“, sagt Sonja. Da ist er in seinem Element. Der Sport macht ihn stark, nicht nur körperlich. Hier kann er abschalten. Das spüre auch ich bei den Dreharbeiten.

Anas musste eine schwierige Entscheidung treffen. Die bisher schwierigste in seinem Leben. Als 2011 der Krieg in Syrien losbricht, zieht die Regierung Jugendliche für den Kampf ein. Um dem zu entgehen, flüchtet Anas aus seinem Heimatland. Er ist 17 Jahre alt, als er Freunde und Familie verlässt. Er fliegt nach Ägypten, dort lebt ein Freund seines Vaters, der sich um ihn kümmert. Anas arbeitet eine Zeit lang als Näher in einer Textilfabrik, bevor er sich über Libyen auf den Weg über das Mittelmeer nach Italien macht. Er hat Angst, fühlt sich ziellos. Hunger und Durst quälen ihn. Ein Öltanker nimmt ihn und die übrige Besatzung des kleinen Flüchtlingsbootes schließlich auf offener See auf. Er landet in einer Flüchtlingsunterkunft auf Sizilien. Es ist 2014. Von dort bringt man ihn über Sardinien nach Genua. Und von dort gelangt er schließlich über Mailand nach Deutschland.

Damit geht Anas ganz offen um. Er hält Vorträge in Schulklassen zum Thema Fluchtursachen und erzählt dort seine Geschichte, die wohl eher einer Odyssee gleicht. Bilder von ihm und seiner Familie sind in der Präsentation zu sehen, wie sie glücklich vereint in Aleppo leben. Anas, seine drei Brüder, seine Eltern. Andere Bilder zeigen ihn beim Training mit Freunden. Dann plötzlich Bilder von Explosionen in Aleppo. Der Krieg hat begonnen. Anas zeichnet seine Fluchtroute auf einer Karte nach. Dazu Bilder aus der Textilfabrik in Ägypten. „Das Geräusch der Nähmaschine kann ich bis jetzt nicht vergessen. Das habe ich mir nicht ausgesucht“, sagt Anas. Weitere Bilder zeigen ihn auf dem Öltanker im Mittelmeer oder am Flughafen auf Sizilien. Stationen seiner Flucht.

All das hat Anas hinter sich. Und doch wird er es wohl sein Leben lang mit sich tragen. Ich erlebe Anas stets als freundlichen und fröhlichen Menschen. Dahinter kann ich nicht blicken. Eine Reise wie seine, die lässt sich für Außenstehende nur schwer begreifen. Die Schüler, denen er seine Geschichte erzählt, werden dabei ganz anders, sagt Anas. Sie kennen den Krieg in Syrien wahrscheinlich nur aus den Nachrichten. Welche Bedeutung es hat, dass er diese Vorträge hält, dessen scheint sich Anas gar nicht so richtig bewusst zu sein. Oder es ist Bescheidenheit, dass er das nicht so hochgespielt hören möchte.

Am Ende seiner Präsentation zeigt Anas den Schülern ein Herz. Die linke Seite ist in den Farben der deutschen Landesflagge eingefärbt, die rechte Seite mit den Farben der syrischen Flagge. „So sieht es in meinem Herzen aus: Das halbe Herz schlägt für Syrien. Die andere Hälfte schlägt für Deutschland und mein eigenes Leben“, sagt Anas. Er wird vielleicht niemals mehr nach Syrien zurückkehren können.

 

Wer Anas unterstützen möchte, kann hier ganz einfach per Mail für ihn abstimmen. Wählt Anas zum Azubi Star 2018! Meine Stimme hat er schon, ist ja klar.

 

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