Räume, Geschichten, Geheimnisse – was Burgmauern erzählen würden

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Die Sonne geht laut Google um 6.43 Uhr auf. Die ersten Strahlen kann ich aber schon kurz nach 6 Uhr von meinem Bett aus sehen, die Sonne dabei beobachten, wie sie sich so langsam über den Taunus schiebt.
„Man kann in jedem Gebäude glücklich oder unglücklich sein“, sagt der niederländische Architekt Rem Kolhaas. „Aber manche Gebäude machen einen unglücklicher als andere.“ Die Burg hinterlässt so langsam ihre Spuren – unglücklich macht sie mich nicht.

Schon in meinem ersten WG-Zimmer in Weimar, einem Gründerzeithaus, fragte ich mich, wer wohl alles in den Räumen lebte? Welche Geschichten die Wände mir erzählen würden, wenn sie es denn könnten?
Und so liege ich in meinem Burgzimmer auf dem Bett, während die Sonne aufgeht, denke nicht nur an meine vier Vorgänger, sondern auch an die Menschen vor ihnen, muss an Cloud Atlas von Tom Tykwer und Andrew und Lana Wachowski denken: Sechs verschiedene Schicksale sind über einen Zeitraum von mehreren Hundert Jahren teils durch gemeinsame Figuren, teils durch Andeutungen und Erinnerungen miteinander verbunden.
Die einen Meter dicke Burgmauer bietet jedenfalls genug Stauraum für Erinnerungen und Geschichten und verbinden tut sie uns auch – mich und die anderen, die hier lebten.

Aus diesem Grund treffe ich mich mit Roswita. Roswita wohnt in Niederheimbach und hat mir ihrer Familie in dem Südturm der Burg Sooneck gelebt, genau da, wo ich jetzt wohne. Und sie wurde in dem Turm geboren.

Als Älteste von fünf Geschwistern kam Roswita 1939 zur Welt, dieses Jahr wird sie 80 Jahre alt. Sie wirkt viel jünger, voller Energie. Wenn sie von ihrem Leben auf der Burg Sooneck spricht, merkt man sofort, sie war dort oben glücklich. Und auch: Es war ein sehr besonderes Zuhause. Wir sehen uns Bilder aus ihrer Kindheit an. Sie als kleines Mädchen auf der Mauer vor dem Eingang des Südturms sitzend, auf der ich auch oft sitze, beide wissen wir, wie sich die Steine anfühlen. Hinter ihr auf dem Foto blühen die Rosen.

Roswitas Mutter kam aus Eichsfeld bei Eisenach in Thüringen und war Krankenschwester. Ihr Vater war Gärtner in Brühl. Dort lernten sich ihre Eltern kennen. Dann wurde er Gärtner auf der Burg Sooneck und so begann Roswitas Leben im Südturm.

Unter dem Holzplateau des Südturms, wie es auch heute noch existiert, befanden sich die Küche und das Wohnzimmer, darunter waren zwei Schlafzimmer. Im Untergeschoss gab es die Burgschenke.
„Es war immer etwas los“, sagt Roswita, „unter der Woche kamen viele Gäste, außerdem war der Burgbesuch der Sonntagsspaziergang vieler Niederheimbacher. Ich habe meine Schulaufgaben in der Schenke gemacht. Es gab zwei Terrassen für die Gäste, vorne und hinten.“ Heute ist die Burgschenke geschlossen.

Fünf Kinder waren sie. Im heutigen Kassenhaus befand sich auch früher schon der Eingang. Unter diesem gab es noch ein weiteres Zimmer sowie die Waschküche. „Man war damals nicht so anspruchsvoll. Ein eigenes Bett zu haben – das genügte uns schon.“

Der Weg zur Burg war zu Roswitas Kindheit nicht asphaltiert: „Das war ein einfacher Feldweg. Bei Wind und Wetter mussten wir als Kinder den Berg hoch und runter gehen. In einem Busch am Ortseingang hatte ich Schuhe zum Wechseln versteckt, wenn meine Schuhe mal wieder zu schmutzig für die Schule waren“, lacht sie.
Ihre zwei Brüder haben es sich unterwegs auch gerne mal gemütlich gemacht, naschten von den Kirschbäumen und Weinbergpfirsichen, die damals noch am Hang wuchsen.

Vor allem im Winter sei der Aufstieg beschwerlich gewesen. „Damals lag ja noch richtig viel Schnee“, sagt sie.
„Heute nicht mehr“, entgegne ich, „aber ich bin auch ganz froh drum, dann wird es nicht so schnell kalt. Es gibt nämlich nur eine kleine Elektroheizung in meinem Turmzimmer.“
„In deinem Zuhause gab es damals wunderschöne, grüne Kachelöfen mit Ornamenten“, blickt sie ein wenig wehmütig zu ihrem Ehemann Karl Heinz, der mit uns am Wohnzimmertisch sitzt.
„Schade, dass es die Öfen nicht mehr gibt“, sage ich, „nur die Schornsteine sind übriggeblieben – die sehen aus wie Vogelhäuschen.“

Roswita erzählt mir, dass die Wände damals im Winter gefroren waren: „Die haben geglitzert.“ Und an den Fenstern wuchsen Eisblumen. Ich muss daran denken, wie ungern ich in kalten Räumen bin und kann mir kaum vorstellen, in eben diesen zu schlafen.
„Da war man doch morgens sofort wach, wenn man aus dem Bett musste, oder?“, frage ich.
„Natürlich. Und ins Bett sind wir nur mit einer Wärmflasche und vielen Wolldecken gegangen.“

Während der Kriegsjahre musste sie mit ihren Geschwistern die Burg verlassen, ihr Vater wurde eingezogen, sie gingen mit der Mutter nach Eichsfeld zu den Großeltern. Als sie nach Kriegsende zurückkehrten, bewohnte eine Flüchtlingsfamilie aus Koblenz „ihren“ Südturm. Roswita und ihre Geschwister zogen in den kleinen Turm, in dem das Kassenhaus war.
„Das sind doch nicht mehr als zwölf Quadratmeter, oder?“, frage ich.
„Ja, kaum zu glauben“, blickt sie mich an, „etwa ein Jahr haben wir da mit meiner Mutter gewohnt, viel mehr gehaust. So lange bis die andere Familie auszog.“

Als Roswita 21 Jahre alt wurde, starb ihre Mutter. Kurz darauf heiratete sie und verließ die Burg. Gerne wäre sie noch länger geblieben. Oben auf der Burg sei das Leben frei gewesen, sagt sie. „Die hohen Decken, die wunderbare Aussicht – es ist einfach ein besonderer Ort.“
Und das spüre ich auch. Räume formen uns, man passt ein Stück weit sein Verhalten an diese an, wächst mit ihnen zusammen. Es macht einen Unterschied, ob man morgens den im Nebel versunkenen Rhein vor der Haustüre respektive der Burgmauer sieht oder parkende Autos. Die Umgebung, in der man lebt, ist immer auch ein Stück weit Identität.
Roswita wollte deswegen auch wiederkehren. Sie spürte Sehnsucht und Wehmut nach ihrem Heimatort und bewarb sich als Burgverwalterin der Burg Sooneck. Ihr Ehemann Karl Heinz wäre natürlich mitgekommen, er fand die Burg auch immer toll. Geklappt hat es leider nicht.
„Ich habe lange gebraucht, um mich an normale Räume zu gewöhnen. Ich habe mich gefühlt wie ein eingesperrter Vogel“, sagt Roswita und blickt aus den großen Fenstern ihres Wohnzimmers.

Roswita möchte von mir wissen, wie das Leben für mich auf der Burg ist. Ich erzähle ihr von dem tollen Ausblick, den ich jeden Tag genieße und von der Decke über mir, die in den Nächten manchmal laut knarzt. Sie lacht: Ja, das habe die Decke auch schon damals getan.
„Angst habe ich nicht gekannt.“ Es gehörte zu ihrer Welt, ihrer Normalität, das Holz knacken zu hören, die Tiere im Wald und die Natur drumherum zu erleben. Aber natürlich sei man stramm nach Hause gegangen, wenn es dunkel wurde, und wir müssen beide lachen.
„Ein wenig gruselig ist es schon, wenn die Geräusche im Wald immer lauter werden“, sage ich.
„Das stimmt. Man hört dann eben jede Bewegung.“

Roswita teilt mit mir noch eine ihrer schönsten Erinnerungen:
„Damals hat man seiner Herzdame, seiner Auserwählten einen Maibaum vor die Tür gestellt“, sagt sie. Ich sehe sie und dann Karl Heinz verwundert an.
„In der Hexennacht vom 30. April auf den 1. Mai platzierten die Männer ihrer Liebsten eine junge Birke vor die Haustür.“
„Das heißt Ihr Ehemann ist über die Burgmauer geklettert, um eine junge Birke vor den Südturm zu stellen?“, frage ich.
Karl Heinz lächelt: „Das war gar nicht so einfach.“
„Ich weiß noch genau, an welcher Stelle, er über die Mauer geklettert ist“, fügt Roswita an und Karl Heinz nickt.
Den Ort verraten sie auch, aber das bleibt unser Geheimnis. Und natürlich das der Burg.

Ich bin Roswita dankbar für ihre Erinnerungen, die sie mit mir geteilt hat, und wenn ich jetzt auf der Burgmauer sitze, sehe ich auch das kleine Mädchen von dem Foto dort, das keck in die Kamera lacht.

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