Mit Red Noami und viel Liebe durch Lahnstein

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Ich bin auf dem Weg nach Lahnstein: Fahre die B42 entlang, bin immer noch überrascht, nein, viel mehr verwundert wie „anders“ von hier der Rhein aussieht, sich das Mittelrheintal entlang der rechten Flussseite erstreckt.
Das Gebirgsmassiv des Taunus drückt sich mal ganz nah an den Fluss – zwischen Rhein und Felswand scheinen bei Ehrenthal und Kestert gerade mal ein paar Bäume und die asphaltierte Straße zu passen. Und dann zieht sich der Taunus nahe der Rheinschleife in Filsen zurück, macht Platz für Obst- und Weinanbau, der Blick kann in die Weite schweifen.

Während ich nach Lahnstein fahre, läuft CocoRosies „Lucky Clover“ in Dauerschleife:

There was a summer breeze
All things a blurry dream
In the shade of the tree
It’s the last September ever

Es geht jetzt schnell, denke ich, die Farben ändern sich, Pullover, bunte Wollsocken und heiße Getränke werden wieder fester Bestandteil unseres Alltags. Taschentücher liegen auf dem Tisch und die Nase läuft.
Die Natur wirft ihr altes Gewand ab. Nach Innen gehen, um sich zurückzuziehen, liegt nahe, steckt als Gedanke in unseren Köpfen. Aber, ob Herbst und Winter noch etwas mit Rückzug im Berufsalltag zu tun haben, bezweifle ich. Zu viel passiert gerade.

Judith, ein Frachtschiff, schiebt sich langsam den Rhein hoch, während die Rheingau-Linie mit mir auf Augenhöhe fährt, vorbei an ein paar Schrebergärten. In einem steht ein Klettergerüst. Das Lila der Plastikschaukel wird heller, verblasst wie die Kindertage, die zurückliegen. An manchen Stellen rostet das Klettergerüst. Alles verändert sich, geht, verfällt.

„What happened to the old tire swing?
Swung too many swungses“, singen CocoRosie.

Irgendwann dann verlieren wir uns – die Bahn und ich. Sie verschwindet im Ortskern, ich bremse ab.

Es ist das zweite Mal in den letzten Tagen, dass ich nach Lahnstein fahre. Ich bin gekommen, um die Stadt zu erkunden, in der ich zuvor noch nicht war. Wusste weder, dass es Nieder- und Oberlahnstein gibt, noch, dass der eine Teil etwas verschlafen sein soll, während sich im anderen das vermeintliche Leben abspielt.

In Niederlahnstein parke ich das Auto, laufe die Hauptverkehrsstraße entlang und werde mit dem Wort „Liebe“ begrüßt, das groß an einer Hauswand hängt. Ich möchte wissen, wer und wieso eben dieses große Wort an seine Hauswand anbringt.

Die Hauswand gehört zu einer Gärtnerei, einem Unternehmen für Garten- und Landschaftsbau. Die Inhaberin ist allerdings nicht da. Dafür Iris Klaue, die leitende Floristin des Geschäfts.
Iris ist eine warmherzige Person, die mich durch dem dazu gehörenden Welterbe-Garten führt, mir die verschiedenen Pflanzen und Gartenbauvarianten zeigt.

„Unsere Pflanzen kommen nicht von einem holländischen Markt, sind nicht schnell hochgezüchtet“, sagt Iris. Sie verzichte in der Floristik auf Plastik. Nachhaltigkeit sei ihr nicht nur in Bezug auf die Pflanzen wichtig: „Ich bin ganz altmodisch, ich kaufe nur in Läden ein, bei denen ich noch einen Bezug zum Verkäufer habe. Online-Shopping ist nichts für mich.“ Man versende nur Pakete und es sei unpersönlich. Sie selbst nimmt sich Zeit für ihre Kunden, ihr ist die Begegnung wichtig, das Gespräch mit dem Einzelnen.

Ich setze mich in den Welterbe-Garten, lasse die verschiedenen Flächen und Pflanzen auf mich wirken: ein Seidenbaum mit pinken Blüten, eine Zwergbananenstaude, deren riesige Blätter einen rot-grünen Farbverlauf haben und samtweich sind.
Die Auszubildende Christina zeigt auf einen Olivenbaum: „Der ist schon über 80 Jahre alt.“ Von dem kürzlich verstorbenen Seniorchef habe sie viel über die verschiedenen Pflanzen gelernt. Im Winter schütze man den Olivenbaum mit Tannenzweigen und einer Abdeckung. Ich fahre mit den Fingen an den knorrigen Ästen entlang, es ist ein schöner Baum.
Christina befindet sich im dritten Lehrjahr, der Bezug zur Natur sei ihr immer wichtig gewesen. Eigentlich wollte sie Landwirtin werden, doch dafür habe ihr die körperliche Kraft gefehlt.

Und dann steht auf einmal Kerstin Degen vor mir. Die 53-jährige ist Landschaftsarchitektin und Künstlerin. Das Banner „Liebe“ habe sie vor etwa zwei Jahren an ihrer Hauswand angebracht, als sie merkte, wie sich die Stimmung im Laden mit den immer lauter werdenden medialen Berichten über Geflüchtete veränderte.
Eine unschöne Energie entstand, getragen auch von manchen Kunden. Mit den Bannern, die es auch mit den Worten Loben, Lachen und Leuchten gibt, möchte sie Akzeptanz und Positives streuen.
„Hass und Ärger sind so schnell gesät. Seltsamerweise verhält es sich mit Positivem genau umgekehrt. Erst als die Rhein-Zeitung über die Banner berichtete, haben auch die Kunde anerkennend reagiert. Vorher waren sie eher still.“ Schade, denke ich. Aber umso schöner, dass „Liebe“ noch heute an ihrer Hauswand hängt und den Ankommenden in Lahnstein begrüßt.

Die Stadt Lahnstein habe die Aktion sehr positiv aufgenommen und unterstützt: „Ab einer Banner-Größe von einem Quadratmeter muss man einen Bauantrag stellen“, damit sei die Stadt sofort einverstanden gewesen.
Die Banner waren auch eine Gegenaktion zu der AfD-Parole „Neue Deutsche machen wir selbst“, die damals in Lahnstein plakatiert wurden.

Eine weitere Aktion sei ein Blumenkasten mit Botschaften gewesen, der gemeinsam mit einer Koblenzer Schule entstand. Kinder mit über 30 Nationalitäten gingen auf die Schule, darunter auch Geflüchtete.
Die Floristin Iris Klaue merkt an: „Die Kinder haben teilweise so berührende Worte auf die Zettel geschrieben, die dann in dem Blumenkasten standen. Das ging einfach unter die Haut.“
Die Botschaften sind mittlerweile weg, der bemalte Blumenkasten steht immer noch vor der Ladentür und erinnert mit den Bannern an Mitmenschlichkeit und Begegnung.

Kerstin Degen führt mich durch ihr Atelier. Im Glaspavillon hängen vier große Leinwände. „Das sind nur vier von sieben“ sagt sie lächelnd, „die anderen drei haben nicht mehr hier reingepasst.“ Über sieben Meter Länge hat das gesamte Kunstwerk. Es ist die letzte Arbeit, die in ihrem Atelier entstand. Danach habe sie es aufgegeben. „Man muss manchmal Dinge, Räume loswerden, um Neues zu beginnen und erschaffen zu können“, sagt sie.
„Danach bin ich mit meinem VW-Bus für zwei Wochen nach Frankreich gefahren, hatte die Öl-Farben dabei und habe einfach gemalt.“
„Das geht nur, wenn man sich von einem anderen Ort befreit hat“, sage ich. Veränderung hat immer etwas mit loslassen zu tun. Sonst schwirrt das Alte weiterhin in unserem Unbewussten herum.

In ihren Arbeiten versuche sie hinter das Wesentliche zu kommen. Der Weißraum ist ein essentielles Element. „Darauf beginnen wir – Weißräumen Leben zu geben“, sagt Kerstin.
„Eben, mit Leere zu komponieren“, füge ich an. Ich mag ihre Bilder, sie haben eine besondere Energie. Da ist der Bezug zur Natur, aber auch zur Architektur. Es entstehen Räume, die mal grafisch, flächig, floral sind, wie eine abstrakte Pflanzenwelt wirken, ohne es sein zu wollen.

Namen haben ihre Arbeiten nicht immer, wohl aber Arbeitstitel. Die Herangehensweise sei unterschiedlich, so Kerstin, manchmal entstünden sie aus einem Gefühl, manchmal sei da ein bestimmter Anlass, der sie zu einer Arbeit bewege, wie bei „Red Naomi“.

Red Naomi ist eigentlich der Name einer Rose. Das Werk, vor dem wir stehen, hat etwas Figürliches, Fleischiges, fast möchte ich sagen, etwas Menschliches. Das mag an dem knorrigen Gewächs liegen, das wie eine sich drehende Hand wirkt oder an den Fleischfarben, die sich ins Grüne mischen.
Der Anlass: Kerstin war im Westerwälder Spiegelzelt bei einer Artisten-Vorführung. Während die Artisten ihre Kunststücke aufführten, wurde dem Publikum ein Drei-Gänge-Menü serviert.
„Schlechtes Timing, oder?“, kommentiere ich.
„Ja, genau“, sagt Kerstin. Das habe sie entsetzt. Die Intensität und Kraft der Artisten sei in dem Menü verschwunden.
„Eine deprimierende Situation“, fügt sie hinzu.
„Für beide, oder?“, frage ich „also es ist weder eine Wertschätzung für das Essen noch für die Künstler.“
„Ja.“ Ein Clown habe ihr am Ende eine Rose überreicht, der Name der Blume war „Red Noami“.

Ungerechtigkeit sei für Kerstin Degen immer ein Trigger, aus dem ein Teil ihrer Arbeiten entstünden. Kerstin muss dann weiter zu einem anderen Termin. Ich bleibe noch. Lasse „Red Naomi“ auf mich wirken: Farbe, Form und Leerraum, die sich wandelnde Figur. Laufe durch ihre Werkstatt und ihren Garten, probiere noch mit der Auszubildenden Christina ein Blatt Erdbeerminze und bin überrascht über den Geschmack.

Danach spaziere ich durch Niederlahnstein zur Lahn, „Red Naomi“ begleitet mich weiter in Gedanken. Es gibt viele kleine Hinterhöfe, verwinkelte Gassen. In der Einkaufsstraße befinden sich mehr Nagelstudios und Friseursalons als Cafés und Bäckereien. Ist es das, was bleibt, wenn die großen Einkaufszentren gebaut werden? Wahrscheinlich.
Ich gehe unter den Kastanienbäumen die Lahn entlang. Auf dem Boden befinden sich jede Menge geplatzter Früchte, der Wind weht hin und wieder durch die Bäume und ich frage mich, wann mir wohl die erste Kastanie auf den Kopf fällt.

„Now that it’s all over
‚cause you’ve got to set me free“,
singen CocoRosie in meinem Ohr weiter.

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