„Mein Ruin ist mein Bereich“ Liebe, Geld und Kneipen

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Liebeskummer ist wie ein 10.000-Teile-Puzzle: Er hat eine Altersbeschränkung von sechs bis 99 Jahren, am Anfang ist es mühselig, anstrengend. Der Berg an unendlich niemals zusammenpassenden Puzzleteilen wird nicht kleiner, genauso wie der Schmerz, der nicht enden will. Man weiß nicht, wo man beginnen soll, nichts will funktionieren, man lässt es liegen, haut ab, flieht, kehrt zurück. Nach und nach fügen sich ein, zwei Teile, doch noch macht das alles keinen Sinn. Dann entstehen kleine zusammenhängende Inseln, das Bild baut sich langsam auf, Dinge klären sich, irgendwann dann ist das Puzzle fertig. Befreiend wird es aber erst, wenn alles wieder im Karton liegt, im Keller steht, bestenfalls auf dem Flohmarkt. Die Analogie sitzt nicht ganz, aber ein bisschen stimmt‘s schon.

Ich sitze mit einer Freundin in einer Kneipe im Mittelrheintal. Die Kneipe ist nicht weit von der Burg Sooneck entfernt. Wir sitzen unter einem Baum, der mit einer Lichterkette geschmückt ist, an einem großen Holzfass, das als Tisch fungiert und trinken Bier. Außer uns beiden sind noch vier weitere Gäste da.

Als wir die Kneipe betreten, mustert man uns kurz, dann wandert der Blick zurück zur Theke, respektive dem vor sich stehenden Bierglas. Ich mag das typische Kneipendesinteresse der anderen Personen: Man kommt, man geht, sagt etwas oder auch nicht, wer reden will, dem hört man zu, wer schweigen will, den lässt man schweigen.
Ein an der Wand hängendes Tablet dient als Jukebox. DJ YouTube tut, was er kann oder das, was gerade über den Screen eingeben wird.

Die Freundin und ich sitzen vielleicht zehn Minuten an dem Holztisch, da stellt sich Dean zu uns. Dean heißt nicht wirklich Dean, aber das ist auch nicht so wichtig.
Dean sagt mit einem leicht britischen Akzent: „Ich komme aus London, aber wir sind nicht alle so wie Boris.“ Damit ist das Gespräch eröffnet. Mit Boris meint er Boris Johnson und wahrscheinlich, dass er nicht genau so – ja, was? Scheiternd, unsympathisch, konfus ist? Oder einen Jack Russel Terrier als Haustier hat? Erfahren werden wir es nicht.

Dean findet uns nett und möchte sich einfach ein wenig unterhalten. Also setzt er sich mit seinem halb vollen Whisky-Glas zu uns an das Holzfass. Denn dafür sind Kneipen ja da, sie stillen „soziale Bedürfnisse nach Kontakt, zwischenmenschlicher Beziehung, Austausch“ so Franz Dröge und Thomas Krämer-Badoni in „Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform“.

Wir hören Dean zu. Er spricht von Liebe und Geld, übers Verlassenwerden und den Brexit. Was irgendwie auch alles zusammenhängt – im Großen und im Kleinen. Wenn Dean lacht, dann übers ganze Gesicht, schelmisch. Man sieht seine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen, die nicht kleiner ist als bei Vanessa Paradis.

Dean ist 50 Jahre alt. Vor 20 Jahren hat ihn seine Freundin verlassen, ist abgehauen mit seinem besten Freund.
„Der Klassiker“, sage ich.
„Ja“, sagt er und seine Augen schweifen ab. Der Schmerz ist immer noch da, spürbar, als wäre es gestern passiert. Eine Träne rollt über seine Wange. Seitdem hat er sich zurückgezogen in seinem „Shelter“, seinem inneren Bunker und Zufluchtsort, wie er sagt.
Natürlich wünscht er sich eine Frau, aber dann müsse er sich öffnen, sich auf etwas Neues einlassen, das Risiko eingehen, verletzt zu werden, und das sei eben zu groß. Das Alleinsein kenne er.
„Und die Einsamkeit?“, frage ich.
„It’s okay.“

Seine Mutter ist Britin, sein Vater ist Deutscher. Er ist in London aufgewachsen, auf einer der besten Universitäten habe er studiert.
„Würden die Leute noch einmal abstimmen, würde es anders kommen.“
„Ein Zurück ist schwierig“, sage ich.
Dean sagt: „Mauern bauen ist keine Option, aus der EU aussteigen auch nicht.“ Im Kleinen tut er das für sich selbst schon.
„Aus Angst vor dem Schmerz“, wie er immer wieder sagt.

Ich muss an meine Puzzle-Analogie denken: Liebeskummer schließt kein Alter aus, nur ab einem gewissen Lebensabschnitt wird er nicht mehr thematisiert, er ist dann nicht mehr „salonfähig“, existiert nur noch für die Person selbst. Mann respektive Frau wird zum einsamen Steppenwolf beziehungsweise der Steppenwölfin. Das Bedürfnis zu reden bleibt. Und eine Kneipe ist ein guter Ort. Man kann, muss aber nichts sagen. Alkohol hilft beim Überwinden der Angst, er erleichtert den Redefluss. Ob das gut ist? Das ist schwer zu beantworten. Aber manchmal ist das auch egal.

Die letzten 20 Jahre habe Dean dann der Arbeit gewidmet, das habe ihn abgelenkt. Er hat viel Geld verdient. Ob das am Ende alles ist, weiß er nicht. Vor Kurzem sagte jemand zu mir, Einsamkeit sei das Thema unserer Zeit. Vielleicht stimmt das, vielleicht nicht. Das hängt ganz davon ab, welchen Pfad man geht, gehen will. Aber im Alter ist Einsamkeit wahrscheinlich keine Seltenheit mehr – zumindest in unserer westlichen Gesellschaft.
Dann schwirren mir noch die Schubladen von Generation-Tinder, Generation-Beziehungsunfähig, Generation-Hauptsache-Irgendein-Schuhkarton durch den Kopf. Manchmal fühlt sich das wie bloße Etikettierung zum Selbstzweck an.

Dean helfen diese Schubladen jedenfalls nicht. Die Kneipe schon. Denn die wird zum Auffangbecken der Gestrandeten. Hier tauschen Menschen Sehnsüchte, Ängste, Verlorenheit, Sorgen aus.
Dröge und Krämer-Badoni sagen, dass Kneipen den Alltag „abwechslungsreich und lebendig“ machen. Und wo keine Kneipe in der Nähe ist, da herrscht „kulturelle Einöde“ und „soziale Wüste“.
Ein Emoji ersetzt kein Lächeln, denke ich. Menschen wollen reden, möchten anknüpfen und dass man ihnen zuhört.

Die Freundin und ich denken jedenfalls noch eine ganze Weile über Deans Einsamkeit und Trauer nach.

Später, als wir an der Burg Sooneck ankommen, ist ein Gewitter aufgezogen. Es regnet und blitzt in der Ferne.
„Der Regen ist auch eine Metapher für dieses Verlorensein“, sagt die Freundin.
„Und fürs Mitnehmen und Fortschwimmen aller Gedanken“, sage ich.

In meiner YouTube Playlist lasse ich für Dean „Mein Ruin“ von Tocotronic spielen.

Tocotronic

Mein Ruin, das ist zunächst
Etwas, das gewachsen ist
Wie eine Welle, die mich trägt
Und mich dann unter sich begräbt

Mein Ruin ist, was mich zieht
Wiederholung als Prinzip
Ein Zusammenbruch, ein Fall
Ein Versuch, ein Donnerhall

Mein Ruin ist Heiligtum
Diebstahl und Erinnerung
Geboren aus Unsicherheit
Freude und Zerbrechlichkeit

Mein Ruin ist Unverstand
Kein Märtyrer, nur Komödiant
Nur aus Kälte und Distanz
Verleih‘ ich mir den Lorbeerkranz

Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin nicht einer von euch
Mein Ruin ist, was mir bleibt
Wenn alles andere sich zerstäubt

Mein Ruin, das ist mein Ziel
Die Lieblingsrolle, die ich spiel‘
Mein Ruin ist mein Triumph
Empfindlichkeit und Unvernunft

Eine Befreiung, eine Pracht
Sanfter als die tiefste Nacht
Die ab jetzt für immer bleibt
Und ihre eigenen Lieder schreibt

Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin nur einer von euch
Mein Ruin ist was mir bleibt
Wenn alles andere sich betäubt

Mein Ruin ist weiterhin
Eine Arbeit ohne Sinn
Etwas, das man nie bereut
Eine Abgeschiedenheit

Mein Ruin ist nur verbal
Feigheit vor dem Feind der Qual
Der Trauer und der tiefen Not
Mein größtes Glück, ein tiefes Rot

Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin einer unter euch
Mein Ruin ist, was mir bleibt
Wenn alles andere sich zerstäubt

Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin einer unter euch
Mein Ruin ist was mir bleibt
Wenn alles andere sich betäubt

Mein Ruin, das ist zunächst
Etwas, das gewachsen ist
Wie eine Welle, die mich trägt
Und mich dann unter sich begräbt

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