Jan erforscht das Labyrinth des Lebens. Er sammelt Eindrücke über den Menschen wie andere Briefmarken.
Und dann begegne ich Jan. Er sagt, er sei 200 Jahre alt und der älteste Single-Mann, den es gibt. Ich muss lachen und setze mich an seinen Tisch, ein wenig verwundert über das, was nun kommen würde.
In den nächsten drei Minuten erfahre ich, dass das mit dem Single-Mann nicht ganz stimmt. Seine Frau ist vor zehn Jahren gestorben. Krebs, 23 Jahre verheiratet. Eine sympathisch-schöne Zeit, lächelt er.
Jan, der in Wirklichkeit 71 Jahre alt ist, kommt ursprünglich aus Tübingen und ist eher zufällig in Boppard gelandet. Er ist Software-Entwickler oder zumindest hat er früher als einer gearbeitet. Seine Kunden waren in ganz Deutschland verteilt und beim Bopparder Kunden sei er irgendwie hängen geblieben, wie er sagt.
Jan ist ein interessierter Beobachter und Denker. Seine Augen sind die eines 17-jährigen Jungen, der neugierig suchend die Welt betrachtet und versucht, sie mit jedem Blick aufzusammeln. Während sein Äußeres – ja, eben älter ist – aber auf mich einen sehr robusten Eindruck macht, als wäre an den 200 Jahren doch etwas dran.
Ein Thema fasziniert ihn ganz besonders: „Der Zusammenhang von Wesen, Charakter, Gewohnheit und Verhalten im Labyrinth des Lebens.“ Auf das Thema sei er gekommen, als er eine Software schrieb und sich über aufkommende Schwierigkeiten bei der Anwendung wunderte.
Ich schwimme mit Jan durch sein Meer an menschlichen Gefühlszuordnungen und -beschreibungen. Es ist sein Versuch, seine Gedanken der letzten 30 Jahre in Worte zu fassen. Dabei fasst er sie nicht nur in Worte, sondern baut mit diesem Versuch eine ganz Welt für mich auf. Das Wesen, sagt er, hätten wir von Geburt in uns und der Charakter sei Selbst- und Fremdformung. So weit weg von dem, was Persönlichkeitspsychologen sagen, liegt er damit nicht.
„Der denkende Mensch vernachlässigt die Gefühle zu oft und denkt lieber“, er beißt langsam in sein Käsebrötchen und hält inne. Er sei auch so einer, meint er. „Dabei sind Gefühle doch da, um gelebt zu werden“, erwidere ich.
„Ja, aber man muss sie auch aushalten.“ Das stimmt und ich lausche für einen Augenblick unserem Nachbartisch. Dort sitzen zwei Teenager, vielleicht 14 oder 15 Jahre alt. Sie werfen sich schüchterne Blicke zu und die Gesprächsfetzen, die ich höre, klingen nach süßem, erstem Date.
Im Moment faszinieren ihn die Menschen. Nicht die Menschen als solche, also ihre Physis, sondern ihr Handeln. Er sagt, die Menschen reagieren lieber, als dass sie agieren. Da mag was dran sein. Ich muss an das Wort Eigeninitiative denken, einfach mal losgehen ohne Ziel. Ins kalte Wasser springen oder leave your comfort zone, wie es in den Finde-Zu-Dir-Selbst–Besser-Leben-Magazinen immer so schön auf Postkartenmotiven steht. Das macht den meisten von uns Angst, mich eingeschlossen, aber wenn man denn mal losgegangen oder gesprungen ist, dann tut es doch gut.
Ich will von Jan wissen, warum das so sei, also warum Menschen lieber reagieren.
„Der Aufwand zu agieren ist viel höher als zu reagieren.“ Der Grund sei vermutlich eben Angst oder Bequemlichkeit. Ganz einfach die Verstrickungen im Labyrinth des Lebens, wie er so schön sagt.
Wir schwimmen noch eine Weile weiter durch die verschiedenen Menschenkategorien, wie er sie nennt, die ihm Ankerpunkte geben, um sein Drumherum einzuordnen.
Und dann kommen wir doch noch einmal auf seine verstorbene Frau zu sprechen. Als es klar war, dass es Krebs mit wenig Hoffnung auf Heilung ist, haben sie ihre Ehe für andere Partner geöffnet. „Dem reizenden Unfug zuliebe“, wie Jan sagt. Ich bin erstaunt über die Freiheit, die die beiden sich geben konnten. „Ja, was sollte man auch tun? Und wieso nicht das letzte Bisschen genießen?“
Ja, recht hat er. Aber man braucht auch den Mut und die Freiheit es zu tun – ganz egal, was das „letzte Bisschen“ dann ist.
Ich verabschiede mich von Jan und muss an Thees Uhlmans „Man muss sich wundern“ in Sophia, der Tod und Ich denken. Jan ist jedenfalls jemand, der sich das Sich-Wundern und die Neugierde bewahrt hat.
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