Lost Places und Segway-Fahren mit Waldorf und Statler

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Karl-Heinz Vaßen und Michael Dempe sind wie „Waldorf und Statler“ aus der Muppet-Show – selbstironisch, immer mit sarkastisch-liebevollem Unterton zueinander gewandt, als wäre es eine Kombination aus ihrem 30. Jahr Eheleben und einer ausgeprägten Kommentarfreude zum Drumherum. Das Drumherum ist an diesem Tag Rhens, das ich ein zweites Mal besuche.

„Schon einmal auf so einem Ding gestanden?“, fragt mich Karl-Heinz und deutet auf den Segway, der im Eingang der Ladenfläche steht.
„Nee, aber das heißt ja nichts“, grinse ich ihn an.
„Segways kommen aus Amerika – du kannst dir sicher denken, was das bedeutet?“
„Dass sie absolut sicher sind?!“, sehe ich Karl-Heinz skeptisch an und dann das futuristische Fahrzeug, das mich an ein Fortbewegungsmittel aus „Futurama“ oder „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnert – irgendwie ein wenig sci-fi, ein wenig extraterrestrisch, ein wenig eigenartig.
„Richtig. Außer man widersetzt sich den Gesetzen der Schwerkraft.“
„Das muss man ja nicht erzwingen.“
„Hat der Eigentümer der Segway-Firma leider versucht“, sagt Karl-Heinz trocken.
„Mhm?“, sehe ich ihn verwundert an.
„Der ist mit seinem Elektroroller eine Klippe runtergestürzt.“
„Oh“, sage ich und denke, wie gut, dass hier das schlimmste Übel wohl der Rhein wäre, der aber ziemlich kalt ist und eine starke Strömung besitzt. Das Kopf-Kino wieder ausschaltend, lasse ich mir von Karl-Heinz eine Segway-Einführung geben.
Kurze Zeit später stehe ich dann selbst auf dem elektrisch angetriebenen Einpersonen-Transportmittel und mache erste Fahrübungen: Ich fahre über Hindernisse wie einen flachen Holzbalken, drehe Pirouetten und darf die maximalen 20 Stundenkilometer auf dem Supermarktparkplatz austesten. Eigentlich gar nicht so schwer, denke ich. Nach vorne fallen lassen, bedeutet Gas geben, nach hinten fallen lassen bedeutet bremsen. Zur jeweiligen Seite fallen lassen, heißt nach links oder rechts fahren. Die ersten paar Minuten sind noch etwas ungewohnt, doch danach läuft es wie von alleine.
Michael Dempe, der Kompagnon von Karl-Heinz, ist die ganze Zeit dabei und filmt meine ersten Fahrversuche. Michael ist der Stillere der beiden, wirkt eher beobachtend, seine Worte setzt er aber genau in den passenden Momenten ein, wobei sie auch ab und zu ein Konter in Richtung Karl-Heinz sein können.

Eine Stadttour durch Rhens auf dem Segway

Eigentlich ist es für eine längere Fahrt schon zu kalt, doch so wie das Wort „eigentlich“ schon ein „aber“ impliziert, lassen wir uns von der Kälte auch nicht an der Tour hindern. Die Fahrt auf dem Segway macht Spaß, ist etwas Neues für mich und eine andere Art einen Ort zu durchqueren. Hin und wieder muss ich jedoch über unseren Anblick schmunzeln: Auch wenn ich mich selbst nicht fahren sehe, kann ich jedoch Karl-Heinz und Michael beobachten. Und die beiden sehen zugegeben schon etwas sonderbar auf ihrem einachsigen Roller aus, als würden sie normalerweise durch die Gänge eines Raumschiffes fahren und nicht eben durch Rhens.

Heute wollen wir uns verlassene Orte anschauen, „Lost Places“, wie Karl-Heinz sagt. Die Standardorte der Stadtführung wie Stadtmauer, Scharfer Turm oder Königsstuhl stehen natürlich auch auf unserer Route, doch der Fokus liegt diesmal auf drei verlassenen Gebäuden: der Rhenser Bahnhof, das Hotel Königstuhl und ein altes Haus im Lohgerber-Viertel.

Als es runter zum Rhein geht, nimmt mein Sicherheitsgefühl auf dem Segway doch noch einmal ab. Die Erinnerung an das Ableben des einstigen Eigentümers vor Augen, fahre ich recht langsam den Hang hinunter. Der futuristische Roller ist mir dann doch etwas suspekt.
„Da nimmt der Mut wieder ganz schnell ab“, grinst Karl-Heinz mich an, der mein Zögern bemerkt hat. Er selbst scheint mit seinem Segway verschmolzen zu sein oder einfach sehr viel Fahrerfahrung zu besitzen, denn weder Bordsteine, Abhänge oder Grünflächen verändern sein Fahrtempo.

„Weißt du, was das dort oben ist?“, zeigt Karl-Heinz auf ein historisch anmutendes Holzgebilde in der Nähe der Rhenser Stadtmauer.
„Ich vermute, das Gebäude hat etwas mit Wein zu tun“, antworte ich schulterzuckend.
„Eine Kelter – die benutzte man früher als Presse zur Gewinnung von Frucht- und Obstsäften, hier als Vorstufe von Wein und vergorenem Most.“
Dann zeigt mir Karl-Heinz noch den kleinsten Rhenser Weinberg. Dieser liegt direkt unterhalb der Kelter und besteht nur aus ein paar Rebstöcken.

Unser erster „Lost Place“ ist der Rhenser Bahnhof, ein Gründerzeitgebäude mit hohen Decken und großen Fenstern, von dessen Wänden schon seit längerer Zeit der Putz abzubröckeln scheint.
„Man könnte hier wunderbar ein Senioren-Treffpunkt einrichten“, kommentiert Karl-Heinz.
„Weil sie die Bahn nicht hören würden?“, frage ich.
„Das war ein Scherz. Aber im Ernst: Es ist bedauerlich, dass so ein Gebäude leer steht und nach und nach verfällt.“
„Die Lage ist im Prinzip super“ sage ich zu den beiden, „man könnte hier mit Sicherheit ein Café, ein Ausstellungsraum, ein Multifunktionsort errichten.“
„Ja, wären da nicht die Kosten“, bedenkt Karl-Heinz.
„Und jemand, der sich dann drum kümmert.“ Wir bleiben noch einen Moment vor dem Bahnhof stehen. Ich sehe zur Uhr hoch, die mit ihrer goldenen Fassung ein wenig wie eine Sonne zwischen zwei Gucklöchern wirkt. Die Zeit – auch wenn sie steht, läuft sie, naja – irgendwie zumindest.

Vorbei an der Stadtmauer fahren wir zum Hotel Königstuhl, ein gut erhaltenes Fachwerk-Gebäude aus dem Jahr 1573, welches seit über zehn Jahren leer steht. Aus dem Hotel kann man über den Rhein direkt zur Marksburg gegenüber sehen. Ein schöner Ort, denke ich, mit einer wunderbaren Aussicht.
Auf dem Innenhof des Hotels liegt eine dicke Laubschicht, die Fensterscheiben sind grau, in einer ist ein Loch, auf dem Dach wächst Moos, als würde sich die Natur das Haus nach und nach zurückholen. Ist wahrscheinlich auch so, doch traurig für das alte Fachwerkhaus, wie ich finde. Wir drehen eine kleine Runde mit dem Segway auf dem Innenhof und begeben uns dann zu unserem letzten „Lost Place“, wie Karl-Heinz noch einmal sagt.
Dieser Ort ist auch ein altes Fachwerkhaus. Es befindet sich in der Lohgerberstraße. Wir fahren über einen alten Bachlauf entlang, der nun unter der Straße liegt. Den Bach nutzten die Gerber früher, um die beim Gerben verwendeten Chemikalien zu entsorgen. Gut für die Umwelt war das natürlich nicht, aber so war das eben. Lohgerber oder Rotgerber sei eine spezialisierte Form der Gerberei, die Rinderhäute zu strapazierfähigen, kräftigen Ledern verarbeitete, erklärt mir Karl-Heinz.

Dann stehen wir vor dem dritten, verfallenden Gebäude:
„Die Gardinen sind schon länger nicht mehr gewaschen worden“, grinst Michael. Wahrscheinlich hat das Haus auch schon länger keiner mehr betreten, denke ich. Ein Bauzaun steht vor dem Eingang, Efeu wächst an der Hauswand hoch, die rotbraune Farbe blättert von den Fensterrahmen ab, die keine Fensterscheiben mehr tragen.
Natürlich ist es schade für einen Ort wie Rhens, wenn drei Gebäude im Zentrum leer stehen und verfallen, denke ich. Andererseits beginnt mit dem Kauf erst das Projekt und ein nachhaltiges Konzept ist sinnvoll respektive essenziell.

Unser letzter Ort, den wir mir dem Segway an diesem Vormittag anfahren, ist der Königsstuhl, von dem aus man eine tolle Aussicht über das Rheintal, den Taunus und die Marksburg hat. Die Kälte wird dann irgendwann doch zu stark und wir machen uns auf den Weg in ein Restaurant.
Karl-Heinz erklärt mir unterdessen, dass der Ortsname Rhens je nach Zugehörigkeitsstatus anders ausgesprochen werde:
„Rhens“ ganz nach Orthografie würden die die Zugezogenen sagen. Diese Personengruppe nutze Rhens überwiegend als Schlafplatz, um zum jeweiligen Arbeitsplatz Koblenz, Mainz oder Frankfurt zu pendeln.
„Rhänz“ sage die gleiche Personengruppe, jedoch mit fortschreitender Integration. Was bedeute, am hiesigen Vereinsleben teilzunehmen, im Sportverein zu sein, eben ein Teil der Gemeinde zu sein.
Und da gebe es noch „Rhäs“. Das würden wiederum nur die „Natives“, die Ur-Einwohner sagen, wie er oder Erich, den ich bei meinem ersten Besuch kennenlernte.

Nach dem Mittagessen lädt Karl-Heinz uns, das heißt Michael und seine Frau Irmgard sowie mich, noch zu sich nach Hause ein. Auf dem Weg zu seinem Haus, welches sich in einer engen, verwinkelten Straße befindet, begegnet uns tatsächlich Erich.
„Hallo Erich“, er sieht mich etwas skeptisch an, „erkennst du mich noch?“, frage ich ihn.
„Jaja, die Mareike aus der Burg.“
„Genau.“ Er lacht.
„Komplett verändert hast du dich“, lacht er weiter, er müsse aber jetzt zum Arzt und wünscht uns einen schönen Tag.

Michas Frau Irmgard, die uns mit in das Haus von Karl-Heinz begleitet, sei Künstlerin, sagt Karl-Heinz.
„Was heißt Künstlerin?! Ich male eben gerne“, gibt Irmgard zurück. Karl-Heinz hat jedenfalls seine eigene Sammlung von ihren Bildern, die mir nach und nach gezeigt werden.
„Ich mag leuchtende Farben und dass es knallt“, kommentiert Irmgard einen von ihr gestalteten Wandkalender. Manchmal lasse sie sich von anderen Bildern inspirieren, manchmal sei es eine bestimmte Technik, die sie zum Malen bringe, manchmal ein spezielles Thema. Allen Bildern gemein sind die satten Farben, die beinahe ungewohnt für Aquarelle sind. Aber genau das reizt Irmgard, dass etwas Unerwartetes entstehe, etwas, das aus dem gängigen Konzept ausbreche.
Eins ihrer Bilder zieht mich besonders an: Es sieht aus wie eine Mischung aus russischem Suprematismus und katalanischem Surrealismus, als hätten sich Malewitsch und Miro zusammengetan, was zugegebenermaßen gar nicht so abwegig erscheint. Geometrische Formen, Linien und Farben verschmelzen mit einer verspielten Leichtigkeit zu einem Werk.
„Wie bist du zu dem Bild gekommen?“, sehe ich Irmgard an.
„In einem VHS Kurs haben wir die für uns markantesten Punkte unseres Lebens aufgezeichnet und aus diesen ist dann das Bild entstanden. Für den Betrachter machen die Formen und Linien natürlich keinen Sinn, für mich hat das Bild eine besondere Bedeutung.“ Verkaufen würde sie es niemals, nachmalen wahrscheinlich schon.
Doch auch ohne die einzelnen Punkte ihres Lebens zu kennen, respektive die Geschichte dahinter, finde ich das Spiel aus Formen und Farben sehr anziehend, vielleicht, weil es so anders ist als die anderen Bilder. Vielleicht auch, weil man doch irgendwie spürt, dass da mehr Bedeutung ist, als man sehen kann – vielleicht. Letztlich ist es nur ein Gefühl.

Bevor ich gehe, zeigt mir Karl-Heinz noch seinen Garten. Die zweite herbstliche Gartenführung in so kurzer Zeit, denke ich.
„Man vermutet gar nicht, dass hinter deinem Haus noch so ein großer Garten steckt.“
„Ja, das habe ich schon öfter gehört“, antwortet Karl-Heinz. Das Haus steht in einer engen Gasse in Rhens, alles wirkt eng und dicht bebaut, kaum Platz um überhaupt sein Auto abzustellen. Sein Garten hingegen ist ein kleines Biotop, ein grünes Paradies, Schutzraum vor dem Alltag eben, in dem er Zitronenmelisse, Thymian, Salbei oder auch Knoblauch anbaut. Sein Garten mache ihm viel Freude und er versuche auch immer mal wieder, etwas Neues anzubauen wie beispielsweise Sauerampfer, was jedoch nicht geglückt sei.

„Bevor wir den Film online stellen, sehen wir uns erstmal deinen Text an“, sagt Karl-Heinz zum Abschied mit einem Augenzwinkern.
„Je nachdem, wie euch der Text gefällt, wird dann der Film noch einmal angepasst?“
„Genau.“ Aber das mache dann Micha, der sei schließlich für Schnitt und Rendering zuständig.

Die Segway-Tour hat mir Freude gemacht, aber ein wenig froh bin ich auch einfach wieder zu Fuß zu gehen.

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