Hören. Beobachten. Zählen. Warten. Wieder zählen.
„Um Wasservögel zu beobachten und zu zählen, braucht man Disziplin und Expertise“, sagt Manfred Braun. Der 67-jährige pensionierte Biologie-Lehrer weiß, wovon er spricht. Seit seinem 15. Lebensjahr beobachtet er die Tiere, dokumentiert sie, führt ein Flora- und Faunatagebuch. Gemeinsam mit seiner Frau Ursula, die auch Lehrerin war, zählt er seit fast 30 Jahren die Wasservögel auf dem Rhein.
Aufstehen. Der Tag von Ursula und Manfred beginnt früh. Gegen acht Uhr macht sich das pensionierte Lehrerehepaar aus Nassau auf den Weg zum Hafen in Oberlahnstein, um die ersten Wasservögel zu zählen. Hören. Beobachten. Zählen. Warten. Wieder zählen. Ursula habe ein gutes Gehör, so Manfred. Sie erkenne die meisten Wasservögel an ihren Rufen. „Kriäärr, kriäärr“, schreit die Lachmöwe, während die Graugans ein „Gahng-an-gang“ verlauten lässt.
Zu ihrer festen Ausrüstung gehört neben einem Fernglas auch ein Spektiv, ein Beobachtungsfernrohr, dessen typischer Einsatz Naturbeobachtungen sind. Die Vergrößerung ist 20 – 80fach. „So eine Vergrößerung braucht man auch, um die Vögel genau zu bestimmen“, sagt Ursula, „besonders bei Möwen ist das nicht immer einfach.“
Wasservögel sind ans Wasser gebunden. Die Zählungen in den einzelnen Regionen finden immer in den Wintermonaten statt, das heißt von September bis April. Denn dann nutzen die Vögel den Rhein als Haltestelle auf ihrer Reise in den Süden oder zum Überwintern. Immer in der Monatsmitte machen Ursula und Manfred Braun eine Stichprobe. Dann fahren sie früh raus, setzten sich an verschiedene Punkte des Rheins und zählen die Wasservögel im Mittelrheinischen Becken von Koblenz-Horchheim bis Filsen.
Von Lahnstein geht es dann weiter zur Schottel bei Osterspai. Die Schottel ist ein Naturschutzgebiet nahe der Rheinschleife. In diesem Stillwasserbereich des Rheins sammeln sich diverse Wasservögel, darunter sind heimische Arten wie die Graugans oder die Stockente, aber auch Neozoen wie die Nilgans oder die Kanadagans. Die Schottel ist eine Ruhezone für die Vögel.
Als Neozoen, so Manfred, bezeichne man Tiere, die sich mit oder ohne menschlichen Einfluss an einem Ort etabliert haben, an dem sie vorher nicht heimisch waren. „Die haben sich quasi von alleine eingebürgert.“
Das könne unterschiedliche Gründe haben: „Die Nutrias, die Sumpfbiber, bei Oberwerth stammen wahrscheinlich aus einer Pelzfarm und sind von dort abgehauen. Die Wollkrabbe im Rhein kam mit den Containerschiffen aus Asien und das indische Springkraut mit den Güterzügen.“
Im Englischen werden diese Arten auch als „Alien Species“ bezeichnet. Fast immer gelangen sie über ein Transportmittel in einen anderen Lebensraum, zeichnen sich durch eine gute Anpassungsfähigkeit sowie eine hohe Fortpflanzungsrate aus. Natürlich haben die Neozoen auch einen Einfluss auf die hiesige Biodiversität, aber so sei das nun mal in einer globalisierten Welt, so Manfred. Die Fauna am und im Rhein bestehe mittlerweile zwischen 70 und 80 Prozent aus Neozoen.
Nilgänse, auch ein Neozoon, brüten das ganze Jahr über, sie haben keine natürlichen Feinde, dürfen aber geschossen werden. „Nur, wer schießt die Gänse am Rhein?“, sagt Manfred schulterzuckend. Die Nilgans kommt eigentlich aus Afrika und breitet sich gerade rasant in Westeuropa aus.
Schottel, Osterspai, Notiz:
Nilgans: 17. September 2018 – 57 Stück, 18. September 2019 – 80 Stück
Kormoran: 17. September 2018 – 68 Stück, 18. September 2019 – 22 Stück
Rostgans: – 18. September 2019 – 1 Stück
„Woher die Rostgans kommt, das frage ich mich natürlich auch“, sagt Manfred. Die Gans habe eine rostbraune Körperfärbung, daher der Name, und komme normalerweise im Inneren Asiens, in der Türkei und in Griechenland vor.
Doch nicht nur die Zahlen hält Manfred fest, sondern auch die Rahmenbedingungen: „Anhand meiner Zählungen kann ich genau sagen, wie das Wetter vor 13 Jahren am 17. September war.“
Ziel der Zählungen sei eine Beobachtung der Bestände, so Manfred, „wie entwickeln sich die Bestände? Welche Bestände nehmen zu? Wie beispielsweise die Nilgans. Welche Bestände nehmen ab? Darunter fallen die Eiderente oder die Tafelente.“
Landesweit gibt es sehr wenige Leute wie Ursula und Manfred Braun, die Vögel zählen. Es ist ein Ehrenamt und die Zahlen sind wie in vielen freiwilligen Engagements rückläufig. Man braucht eine gewisse Expertise, das nötige Fachwissen, man muss konsequent sein, regelmäßig, das heißt jeden Monat zählen.
Wasservögel sind keine systematisch einheitliche Gruppe wie beispielsweise Gänsevögel. Als Wasservögel versteht man unter anderem die Entenvögel, Reiher oder Möwenvögel. Sie alle nutzen den Rhein unterschiedlich: Die Möwen verwenden den Fluss als Zugstraße, ob in der Nord-Süd oder Süd-Nord-Richtung. Die Sturmmöwe kommt von der Nordsee und ist vor allem im Februar zu sehen. Während die Kanadagans im Westerwald brütet und die Schottel bei Osterspai zum Überwintern nutzt.
„Der Rhein friert mittlerweile nicht mehr zu,“ sagt Ursula. Dadurch können die Vögel hier überwintern. „Die Schottel ist das Herzstück unserer Zählstrecke“, ergänzt Manfred. An diesem Ort sammeln sich die meisten Arten, ob zum Überwintern oder Brüten wie die Graureiher, Mandarinenten oder eben die Nilgänse.
„Zum Fressen fliegt die Nilgans allerdings auf naheliegende Felder im Hunsrück oder Westerwald. Daher kann es sein, dass man manchmal tagsüber keine Nilgans am Rhein entdeckt. In der Dämmerung sieht man sie hingegen oft umherfliegen.“
Neben der Wasservogel-Zählung engagieren sich die beiden auch in der Öffentlichkeit. „Seit drei Jahren bin ich im Ruhestand, aber viel Zeit habe ich nicht“, sagt Manfred. Der Termin-Kalender der beiden ist voll: Exkursionen reihen sich neben Vorträgen und geführten Waldspaziergängen. Dass die beiden in Nassau lebenden Rentner naturverbunden sind, ist schnell klar. Ursula war lange ehrenamtlich für den Naturpark Nassau verantwortlich.
Darüber hinaus betreuen die beiden Bachelor- und Master-Studierende in Biowissenschaften an der Universität Koblenz.
„Dort haben wir auch studiert“, sagt Manfred.
„Und euch kennengelernt?“, frage ich.
„Das kann man nicht leugnen“, sagt Manfred trocken und wir drei müssen lachen.
„Der Biologie-Unterricht findet heute viel zu sehr in der Klasse statt“, sagt er. Dabei ist das Meiste vor unserer Haustüre, denke ich. Aus diesem Grund habe Manfred immer wieder versucht, mit den Schülern rauszugehen.
„Das ist natürlich nicht immer einfach gewesen. Lust hatten die natürlich nicht jedes Mal.“ Letztlich war es aber doch eine Bereicherung zum Unterricht im Klassenraum.
„Kreativschaffende Lehrer sieht man nicht immer gerne“, sagt Manfred. Aber genau das ist es, denke ich, was die Neugierde am Leben hält, Kinder wach werden, die Dinge verstehen lässt.
„Ich bin mit über 1200 Überstunden aus dem Dienst gegangen, etwa 400 davon konnte ich abgelten.“
Manfred und Ursula Braun sind Selbstversorger. Obst und Gemüse bauen sie in ihrem Garten an, haben eine eigene Hühner- und Wachtelzucht.
„Das ist natürlich ein Haufen Arbeit“, sagt Manfred, „gerade in so einem trockenen Sommer kann man nicht einfach mal nicht gießen oder den Tieren kein Wasser geben.“
„Kiwis haben wir auch.“
„Kiwis?“, frage ich erstaunt.
„Ja, die werden zwar nicht so groß wie die im Supermarkt, wachsen aber ganz hervorragend hier.“
Während ich mich auf den Heimweg mache, geistern mir noch die Namen und Rufe der verschiedenen Vogelarten durch den Kopf und ich bin gespannt, ob ich den ein oder anderen wiedererkenne. „Kriäärr, Kriäärr“
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