Helene lerne ich an einem warmen Sommertag auf der Burg Sooneck kennen. Ich sitze am kleinen runden Picknick-Tisch nahe der Burgmauer und schreibe. Auf einmal steht Helene vor mir. Sie hat einen Holzkorb in der Hand, gefüllt mit Zwetschgenkuchen, Kaffee und einer Tischdecke. Außerdem befindet sich darin ein Rüdesheimer Kaffeeservice für drei Personen. Helene trägt ein rosafarbenes Dirndl und hat goldblonde Schulterlange Locken. Ich schaue mich kurz nach den Kameras um, denn für einen Moment habe ich das Gefühl, mich in einem Filmset für Heidi, einem bayrischen Schlagervideo oder dem Heimatkanal zu befinden. Aber da ist kein Filmteam – nur eine Familie mit zwei Kindern, die Helene „Frau Müller“* nennen.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen“, fragt Helene.
„Natürlich“, antworte ich.
Fünf Minuten später sitze ich an einem perfekt eingedeckten Nachmittagstisch. Helene schickt die Familie mit den zwei Kindern in den Bergfried zur Führung.
Ich bleibe sitzen, wir sprechen nicht lange miteinander, dafür sind es intensive 20 Minuten. Helene gibt mir ihre Telefonnummer.
Sechs Wochen später rufe ich sie an.
„Jaja, ich weiß, wer Sie sind“, sagt Helene lachend am Telefon.
„Das ist schön.“
„Wollen Sie vorbeikommen?“
„Gerne.“
„Mögen Sie’s deftig? Also Federweißer und Zwiebelkuchen?“
„Mein Magen verträgt das leider nicht so.“
„Ach, die jungen Leute. Dann gibt‘s Zwetschgenkuchen und Kaffee. Aber ganz ehrlich, das liegt an Ihrer Galle.“
„Meinen Sie?“
„Ja, freilich. Probieren Sie Folgendes: Radieschen vorab. Und immer mal wieder. Das stabilisiert.“
„Danke, ich werd’s versuchen.“
„Aber für Dienstag bleibt‘s beim Süßen“, bestätigt sie noch einmal.
„Das ist gut.“
Nun stehe ich vor Helenes Haustür. Sie wohnt in der Nähe des Rochusberges in Bingen. Die Aussicht ist wunderbar: Rhein und Niederwalddenkmal in einem Panorama.
Helene ist 70 Jahre alt. Zumindest stellt sich das in unserem Gespräch heraus. Sie möchte nicht, dass man sie erkennt, wenn ich über sie schreibe. Ihr Vorname „Helene“, den dürfe ich aber verwenden.
„Wissen Sie, ich habe gerne meine Ruhe. Schreiben Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie meinen Nachnamen weg.“
„Selbstverständlich.“
Ihre wachsamen blauen Augen sehen mich mit einer Mischung aus Neugierde und Freundlichkeit an. Diesmal trägt sie kein Dirndl, ist aber adrett gekleidet. Ein weißer Wollpullover mit eingestickten Perlen, eine royalblaue Hose und ein passendes Halstuch dazu.
„Kommen Sie rein!“
„Soll ich meine Schuhe ausziehen?“, blicke ich auf den glänzenden Steinboden.
„Auf keinen Fall!“
„Alles klar.“
Wir setzen uns in ihr Wohnzimmer. Das Interieur versammelt mehrere Epochen Geschichte in einem Raum: dunkles Nussbaumholz, eine klassizistische Sitzecke, ein Sofa mit Brokatstoff, selbstgestickte Bilder, riesige Perserteppiche und eine Royal Copenhagen Tellersammlung an der Wand. Die meisten Teller sind mit Motiven aus Mainz versehen, ein paar mit welchen aus Nürnberg.
„Das ist wunderbares Porzellan. Einen der ,Mainzer Teller‘ schenkte mir meine Mutter zum Muttertag“, sagt Helene lachend, „zum Muttertag der Tochter etwas schenken – wir haben uns damals köstlich amüsiert.“
Helene hatte eine sehr intensive Beziehung zu ihren Eltern, diese Erinnerung habe ich schon aus unserem ersten Gespräch auf der Burg mitgenommen. Wenn sie von ihren Eltern spricht, scheint es, als hätte sie deren Geschichten selbst erlebt.
Das faszinierende an ihr ist jedoch ihr Interesse, nein ihre Begeisterung für Geschichte. Sie springt von Napoleon, zu den Die SchUM-Gemeinden und dann zu Schiller und Goethe, macht dabei das Erzählte lebendig. Es ist, als würde man selbst durch die Jahrhunderte reisen. Sie holt ein Erbstück „Bildersaal deutscher Geschichte“ von der klassizistisch anmutenden Kommode.
„Das Buch ist von meinen Großeltern, Erstauflage von 1890.“ Sie öffnet das DinA3 große Bilderband, das mindestens drei Kilogramm wiegt und mit einer goldenen Prägung versehen ist.
„Hier sehen Sie, die SchUM-Städte: Speyer, Worms und Mainz hatten die ältesten und zeitweilig größten jüdischen Gemeinden im 11. bis 14. Jahrhundert in Deutschland. Das jüdische Erbe in diesen Städten am Rhein ist einzigartig. In den drei Gemeinden war das religiöse und kulturelle Zentrum des aschkenasischen Judentums.“
Ich fahre mit meinem Fingern über die angegilbten Seiten, die Texte sind in Fraktur gesetzt und mit Abbildungen verschiedener Kupferstiche versehen.
„Geschichte“, sie atmet langsam aus, „in Anbetracht der Taten in Halle fragt man sich doch, warum lernen diese Menschen nicht? Muss sich immer alles wiederholen?“ Wir schweigen einen Moment.
„Naja, das macht nur wütend und traurig.“ Dann legt sie mir ein zweites Stück Zwetschgenkuchen auf meinen Teller.
„Sie sollten den mit Sahne essen. Das schmeckt besser“, lächelt sie sanft und macht sich an das ihrige Stück mit Sahne.
„Ja, ich weiß, also ich glaube es Ihnen. Ich mag nur nicht sehr gerne Sahne.“
„Jaja, das habe ich schon bemerkt“, blickt sie mich wissend an.
„Helene, woher kommt Ihr Interesse für Geschichte?“
„Das ist doch ganz normal. Zumindest war es das früher: Man wusste alle Geschichten von seinen Großeltern und Urgroßeltern, Tanten, Onkeln, anderen Verwandten. Das gehörte dazu. Man war einfach an den verschiedenen Generationen interessiert. Hat Familiengeschichte geteilt und die hängt ja auch mit der Deutschen Geschichte, mit der Geschichte dieser Welt zusammen.“
„Das stimmt, was Sie sagen.“ Und ich merke mal wieder, dass sich mein Gedächtnis wie ein Sieb anfühlt.
„Außerdem versteht man die Gegenwart nur über Geschichte.“ Recht hat sie auch da, denke ich.
Helene hat nie geheiratet. Ihre Mutter schien wie ein Lausbub zu sein, der Vater war stets darauf bedacht, dass Helene in den naturwissenschaftlichen Fächern gut ist. Sie war einziges Kind und der Wunsch ihrer Eltern.
„Ungewöhnlich für eine Frau aus Ihrer Zeit, nicht zu heiraten, oder?“, frage ich vorsichtig. Sie lächelt und überlegt einen Moment:
„Wissen Sie, ich habe in verschiedenen Betrieben mit den verschiedensten Menschen aus Schichten und Herkunft aller Couleur gearbeitet. Überall ähnliche Ehe-Probleme. Und als ich im heiratsfähigen Alter war, da war ich gut eingearbeitet, habe mein Studium gemacht. Und das hätte ich alles aufgeben müssen. Ganz ehrlich: Nein!“ Helene arbeitete im operativen Controlling verschiedener Unternehmen, trug viel Verantwortung und war für die Verwaltung des Budgets zuständig.
„Dann hätte ich mit Sicherheit auch Kinder gewollt und für diese wäre ich zuhause geblieben, aber das wollte ich nicht.“ Was für Frauen zum Teil heute noch immer zu rechtfertigen ist, hat Helene einfach gemacht. Wenn sie darüber spricht, scheint es wie eine Selbstverständlichkeit.
„Schauen Sie sich die Körperstatur an“, zeigt sie auf einen Kupferstich, der eine Ernteszene im 16. Jahrhundert abbildet, „die hatten noch körperliche Kraft damals. Das könnten wir heute nicht mehr.“ Auf dem Bild sind leicht bekleidete Männer und Frauen zu sehen, die auf dem Land arbeiten. Die Szenerie wirkt herbstlich kühl.
„Wahrscheinlich, zumindest würden wir es nicht lange ohne warme Kleidung aushalten.“
Während wir weiter in der Originalausgabe „Bildersaal deutscher Geschichte“ blättern, plätschert der Brunnen in Helenes Wohnzimmer vor sich hin.
„Sagen Sie, wo kann ich am Ende Ihren Text lesen?“, fragt sie mich.
„Auf dem Blog und hin und wieder in der Rhein-Zeitung.“
„Also im Internet?“
„Ja.“
„Dann müssen Sie ihn mir schicken. Mein Internet ist der Garten.“ Helenes Garten ist aufwendig angelegt, zumindest in meinen Augen. Rosen, Lilien, ein Seidenbaum, viele Namen von Blumen, die ich mir nicht alle behalten kann, aber wunderschön klingen.
„Das sieht nach viel Arbeit aus?!“
„Ach quatsch. Arbeit macht das nicht. Ich bin ja jetzt im Ruhestand.“
In dem Haus wolle sie noch etwa zehn Jahre wohnen, dann werde es verkauft.
„Wenn ich nicht mehr kann, will ich mir den Verfall von alldem nicht ansehen. Das würde mir wehtun.“ Sie habe sich eine kleine Immobilie in Bayern gekauft.
„Und der Wohnzimmerschrank kommt dann ins Schlafzimmer“, sie zeigt auf einen dunklen Nussbaumschrank. „Ich will in einen schön eingerichteten Raum gucken, wenn ich mal bettlägerig sein sollte – nicht in ein Schlafzimmer. Das macht doch depressiv.“
Bevor ich nach vier Stunden und 1000 Jahren deutscher Geschichte aufbreche, erzählt Helene mir, dass sie zwei Studenten im Haus wohnen habe. Mit einem der beiden habe sie kürzlich lange über den Klimawandel, die Politik sowie gewünschte Verhaltensänderungen diskutiert.
Die Politik sei dem Studenten nicht radikal genug, sagt Helene.
„Wir alle möchten flott leben. Man kann nicht alles sofort umkrempeln. Das braucht Zeit“, schaut Helene mich an. Das habe dem glühenden Studenten nicht gepasst.
In der darauffolgenden Woche, war es sehr kalt. Helene habe die Fenster in den Wohnungen der beiden geschlossen, dabei sei ihr aufgefallen, dass bei dem Studenten die Heizung ganz aufgedreht war.
„Als ich ihm das gesagt habe, hat es ihm natürlich nicht gepasst und behauptet, das wäre ihm vorher noch nie passiert. Mag ja sein. Aber ganz ehrlich: Wenn wir uns alle ein wenig ändern, unseren Konsum anpassen, dann können wir so viel mehr erreichen. Das geht schneller als die Politik Gesetze und Entscheidungen trifft.“
Ich verabschiede mich von Helene.
„Den Weg nach Draußen und zum Auto finden Sie ja.“
„Ja, ich denke schon. Danke.“
„Bis bald. Vielleicht ja zu einem Weihnachtsmarkt?“
„Gerne, wieso nicht?!“, sage ich und gehe die Treppe runter zum Auto.
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