„Wir sehen die Dinge, wie wir sind, nicht wie sie sind.“ Als ich Lu begegne, muss ich an die Worte von Anaïs Nin denken.
Lu heißt eigentlich Florian und ist Mitte zwanzig. Er hat feine Gesichtszüge, klare, blaue Augen, die verträumt über den Rhein blicken. Seine dunkelblonden Haare fallen ihm immer wieder ins Gesicht.
Ich habe den Tag damit verbracht, die B42 entlangzufahren, wollte den rechtsrheinischen Teil weiter erkunden, die Perspektive auf die andere, gewohnte Seite haben. In Rüdesheim bin ich dann mit der Fähre übergesetzt und sitze nun gegenüber von Lu.
„Flussabwärts, heißt hochfahren, oder?“, frage ich ihn und nehme eine Gabel von meinem Salat, den es heute in der KüFA („Küche für Alle“) für einen Obolus gibt. Er lacht und sagt, er müsse selbst erst einmal darüber nachdenken, aber vermutlich sei das richtig, jedoch eine eigenartige Frage jemanden anzusprechen.
Wir sitzen auf der Terrasse des JUZ. Das JUZ ist Bingens Jugendzentrum, ein alternativer Projektraum. Über der Terrasse hängen weiße Lampions und bunte Lichterketten. Das alte Backsteingebäude ist mit vielen Graffitis besprüht und hat einen gewissen Industriecharme. Hinter uns befindet sich der Anlegeplatz der Fähre.
Hin und wieder seilt sich eine dicke, schwarze Wolfsspinne aus eine der weißen Papierlaternen ab.
„Die leben seltsamerweise gerne in den Lampions“, verfolgt Lu meinen Blick, der gerade an den langen Beinen einer Spinne klebt.
„Tiere zu beobachten ist für mich alles. Die sind einfach da – im Hier und Jetzt“, fügt er an. Aus diesem Grund könne er nicht verstehen, wie Tieren unnötig Leid angetan werde. Man spürt, dass ihn das wirklich mitnimmt. Es gäbe Menschen, die haben kein Verständnis für sein Empfinden, sagt er.
Lus Blick schweift ab, fliegt über den Fluss. Der Wald auf der Rüdesheimer Seite sieht wie eine Wolldecke aus, die auf dem Berg liegt, denke ich, nur das Niederwald Denkmal guckt wie ein Fremdkörper daraus hervor.
Lu besitzt ein Faltboot, sagt er mir. Das ist ein Boot, das aus einer flexiblen Bootshaut und einem zerlegbaren Innengerüst besteht. Man kann es quasi einpacken und überall hin mitnehmen. Mit diesem fährt er die unbegradigten Seitenarme des Rheins entlang. Dort gibt es Gelbwangen-Schildkröten und Brutstätten von Fischreihern, manchmal auch von Kormoranen.
„Schildkröten?“, sehe ich ihn skeptisch an.
„Ja, du glaubst mir nicht, oder?“
„Doch, aber es ist das erste Mal, dass ich davon höre.“ Lu erklärt mir, dass die ausgesetzten Gelbwangen-Schildkröten sich immer weiter ausbreiten. Manchmal sehe man sie, wie sie sich auf einem Baumstamm sonnen. Den ehemaligen Besitzern werden die Tiere zu groß und so werden sie eben ausgesetzt.
„Das Faltboot macht keine Geräusche. Es treibt langsam vor sich hin. Es ist perfekt um Tiere zu beobachten. Das ist wirklich wundervoll.“ Wenn ich in seine Augen sehe, bekomme ich nur eine leise Vorstellung davon, wie es ist mit dem Faltboot den Rhein entlang zu treiben.
Lu begeistert mich, er zieht mich mit in seine Welt. Wenn er von der Flora und Fauna, den Tieren spricht, die er beobachtet, ist es, als wäre man mit ihm unterwegs. Man riecht die feuchte Erde, fühlt den Wind und sieht die Wesen mit anderen Augen. Zu sagen, dass er die Natur liebt, wäre nicht richtig – irgendwie romantisiert. Ich glaube, er fühlt sie, als würde sie durch ihn hindurch fließen.
Lu kommt eigentlich aus der Nähe von Mainz. Im Binger JUZ ist er eher durch einen Zufall gelandet. Er habe dort hin und wieder Musik gemacht, so habe er die Betreiber kennengelernt. Man könne jederzeit kommen und die Leute seien super. Größere Städte wie Mainz stoßen ihn eher ab.
„Mich überfordert die Ansammlung von Menschen. Keinen Platz zu haben und ständig jemand begegnen zu müssen, ist mir schnell zu viel.“ Ich kann Lus Überforderung verstehen, manchmal braucht man Rückzugsräume, Stille, Orte – an denen keiner ist. In der Stadt ist das viel schwieriger zu finden als auf dem Land.
Ab und zu rollt ein Güterzug durch unser Gespräch.
„Eigentlich ganz gut – in der Zeit kann sich jeder von uns ein neues Thema überlegen“, grinst er.
„Ja“, lache ich.
Auf einem der Güterzüge werden Autos transportiert und ich muss an die Absurdität denken, dass Dinge, die eigentlich selbst fahren können, transportiert werden. Ähnlich geht es mir auch bei Pferdeanhängern:
„Wir transportieren Tiere, die von sich aus laufen können, um sie an Orte zu bringen, an denen sie wiederum über Stangen hüpfen. Manchmal tun wir Menschen schon eigenartige Sachen.“
„Das stimmt. Genauso seltsam ist es, wenn wir zum Sport fahren. Also wenn ich erst mit dem Auto zu unserem Dorffußballplatz fahre, obwohl ich dahin laufen könnte“, sagt er.
Ich erzähle Lu von dem Zitat von Anaïs Nin und er legt mir eine Flasche auf den Arm.
„Wenn dich die Flasche nun also stört, liegt es nicht an der Flasche sondern an dir?“, sieht er mich fragend an.
„Genau. Die Flasche ist nur das Ding, das Wesen. Der sich daran störende Gedanke kommt alleine von mir.“
„Ich muss gerade an Autofahrer im Straßenverkehr denken“, sagt Lu, „jeder meint, recht zu haben, findet den anderen nervig, findet, der andere sei schuld. Schüttelt über ihn den Kopf und hupt. Doch eigentlich nervt jeder nur sich selbst.“
„Ja, genau.“
„So habe ich das noch nie gesehen“, lächelt Lu.
„Liegt eben an uns und daran, wie wir Dinge sehen.“
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