Tatort Fußgängerzone. In der kleinen Stadt Boppard am Rhein verschwinden in der Nacht von Sonntag auf Montag zwei Gedenksteine, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern sollen.
Es ist Donnerstagmittag. Die Sonne scheint. Die Bopparder Fußgängerzone ist belebt. Menschen sitzen in Cafés, halten ein Schwätzchen oder bleiben vor den Schaufenstern stehen. Wer zum Einkauf schnell in die Läden springt, schließt sein Fahrrad nicht ab. Keine fünfzig Meter weiter fließt duldsam der Rhein.
Ich mache mich auf die Suche nach der Stelle, an der in der Nacht von Sonntag auf Montag zwei sogenannte Stolpersteine gestohlen wurden: kleine, in den Pflasterstein eingebrachte Gedenktafeln aus Messing, die an Opfer der Nationalsozialisten im Dritten Reich erinnern sollen. Ich finde sie nicht. Die Hausnummer stimmt. Die Straße auch. Aber: nichts.
Eine Friseurmeisterin zeigt mir die Stelle. Sie ist direkt vor ihrem Geschäft. Die Lücken sind bereits wieder zugepflastert. An die gestohlenen Steine erinnert lediglich ein kleiner gelber Farbpunkt. Daneben ein Verkaufsschild mit Preislisten.
Erst am Samstag, keine 48 Stunden vor dem Raub, wurden die Steine andachtsvoll verlegt. Viele Bopparder sind dabei. Sie alle sind gekommen, um zu erinnern. Die Unterstützung für das Projekt in der Bevölkerung ist groß. Zwei Steine sollen an Lina Mayer und Sally Siegler erinnern. Die Enkelin von Lina Mayer ist bei der Gedenksteinverlegung anwesend. Sie spricht über ihre Oma, darüber, wie gern Lina Mayer in Boppard lebte, wie sehr sie in der kleinen Stadt am Rhein verwurzelt war. In Briefen an ihre Enkelin schreibt sie in der schlimmsten Zeit von Terror und Verfolgung, wie schön der Sommerampfer in ihrer Heimat blüht. Der Mann von Lina Mayer fällt für Deutschland im Ersten Weltkrieg. Lina Mayer wird den Zweiten nicht überleben. Sie wird von den Nazis abgeholt. Und stirbt mit 58 Jahren.
Lina Mayers Enkelin erzählt, wie wichtig ihr dieses Gedenken, dieser Stein ist. Es gibt kein Grab, an das sie gehen kann. Der Stein soll diese Lücke schließen.
Am Morgen des Montags ist er verschwunden.
Von der Bopparder Polizei heißt es, man sei nah am Ball, könne aber noch nicht Vollzug melden. Dass es ein Video gibt, das den mutmaßlichen Täter zeigt, will sie aus ermittlungstaktischen Gründen nicht bestätigen.
Sicher ist: Es gibt ein solches Video. Aufgenommen von Überwachungskameras eines Metzgergeschäfts unmittelbar neben der Stelle, wo die Stolpersteine verlegt wurden. Die Bilder zeigen den mutmaßlichen Täter. Kamera 1 zeigt einen Mann, der sich kurz vor Mitternacht aus der Innenstadt kommend zielsicher auf die Stelle mit den frisch gelegten Stolpersteinen zubewegt. Er trägt Handschuhe, eine Baseballkappe, dunkle Kleidung, hat einen Bart mit Schnauzer und ist vermutlich um die 60 Jahre alt. Die Bilder zeigen auch, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine geplante Tat handeln muss. Der mutmaßliche Täter scheint ortskundig, blickt immer wieder in die umliegenden Fenster, um sich zu vergewissern, auch unbeobachtet zu sein. Dann verliert ihn die Kamera 1. Kamera 2 übernimmt, filmt den Mann von hinten. Er bückt sich ca. 40 Sekunden über der Stelle mit den Stolpersteinen. Dann zieht er ein Baustellenschild mit großem Standfuß darüber und verschwindet. Die unmittelbare Tat sieht man nicht.
Lina Mayers Enkelin war es auch, die 2008 mit der Bitte an die Stadt Boppard herantrat, mit solchen Gedenksteinen an die Opfer, an die Oma, zu erinnern. Der Stadtplaner Andreas Roll, der für die Grünen im Bopparder Stadtrat sitzt, setzt sich seither für sie ein. Er wird Sprecher der Initiative „Boppard setzt Stolpersteine“, organisiert parteiübergreifend Unterstützung für das Projekt. Am Samstag verlegen sie die ersten 16 Steine. Roll spricht von einer „breiten Unterstützung in der Bopparder Bevölkerung“. Jetzt erst recht, sagt er.
Keine 400 Meter von der Stelle entfernt, wo die Steine eigentlich liegen müssten, ist das Optikergeschäft Holz. Der Inhaber Robert Holz hat sein Geschäft in der alten Synagoge, seit 2002 ist sie Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal. Holz hat das Gebäude 1990 gekauft und dann mühevolle neun Jahre restauriert. Er nutzte die Räume zunächst als Kunstgalerie, dann als Optikergeschäft. In den Jahren des Umbaus muss sich Holz mit vielen Anfeindungen herumschlagen. Holz holt zwei dicke Aktenordner aus einem hellbraunen Eichenschrank. Die Ordner sind voll mit Drohbriefen aus dieser Zeit. „Wir fackeln euch das Haus ab“, „Wenn es damals schon nicht gebrannt hat, brennt es jetzt“, „Judensau“, „Happy Holocaust“. Auch Drohanrufe habe es gegeben. Das war eine harte Zeit, sagt er. Viele hätten sein Geschäft gemieden. Damals habe es so eine Art Bopparder Kodex gegeben: „Da geht man nicht hin.“ Das alles habe ihn geprägt. Ende der neunziger Jahre dann normalisierte sich die Situation. Heute bekommt Holz keine Drohbriefe mehr. Vergessen hat er sie nicht.
Andreas Roll hat keine solche Ordner: Keine E-Mails oder Anrufe. Da war gar nichts, sagt Roll. Im Vorfeld der Gedenksteinlegung habe es eine breite Unterstützung gegeben. Umso schrecklicher jetzt die gestohlenen Steine.
In Klaus-Dieter Alickes „Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum“ kann man nachlesen, dass sich bereits im 11. Jahrhundert die ersten Juden in Boppard ansiedelten. Im 12. Jahrhundert bildete sich eine jüdische Gemeinde. Gleichzeitig setzten die ersten Pogrome ein. Der traurige Tiefpunkt vollzog sich dann in der NS-Zeit. Vielen Bopparder Juden gelang die Immigration. Anfang der 40er Jahre wurden die Daheimgebliebenen von den Nazis abgeholt und zunächst nach Bad Salzig gebracht, wo man sie bis zur endgültigen Deportation in die Konzentrationslager internierte.
Heute gibt es in Boppard keine jüdische Gemeinde mehr. Aber viele engagierte Menschen, die erinnern wollen. Einer davon ist Robert Holz. Ein anderer Andreas Roll. Roll hat schon neue Steine bestellt. Er will diese Lücke schließen. Er muss.
Die Namen der in Boppard lebenden Juden, die in der NS-Zeit umgekommen sind (Angaben nach Alemannia Judaica – der Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum):
Martha Benedick geb. Kahn (1894), Otto Benedick (1884), Rudolf Cohnen (1922), Sally Cohnen (1888), Selma Cohnen geb. Höxter (1891), Ella Daniel geb. Trum (1898), Selma Eppestein geb. Marx (1879), Rosa Feist geb. Ackermann (1908), Betty Forst (1896), Else (Ilse) Forst (1922), Erwin Forst (1928), Hermann Forst (1921), Jakob Forst (1887), Johanna Forst geb. Levy (1880), Josef Forst (1896), Josef Erich Forst (1920), Julius Forst (1880), Leo Forst (1884), Max Forst (1886), Rosa Forst (1887), Rosette Wilma Forst (1932), Werner Forst (1924), Benjamin Haas (1872), Theodor (Theo) Haas (1904), Hermann Herz (1877), Alma Heymann geb. Benedick (1886), Jenny Hirsch geb. Kaufmann (1883), Maximilian Hohenstein (1883), Ella Margaretha Holberg (1925), Josef Holberg (1882), Karl Moritz Holberg (1937), Lina Holberg geb. Trum (1896), Amalie Isidor geb. Feist (1878), Jakob Isidor (1881), Emanuel (Emil) Kaufmann (1873), Hermann Kaufmann (1887), Max Kaufmann (1880), Walter Kaufmann (1901), Emil Löb (1872), Rosalie Mansbach (1862), Selma Marx (1873), Lina Mayer geb. Kombert (1884), Alma Meyer geb. Ruben (1877), Bessi (Bertha) Meyer geb. Königsberger (1903), Clementine Meyer (1870), Erich Meyer (1905), Julius Meyer (1868), Kurt Meyer (1903), Robert Meyer (1876), Ferdinand Oster (1881), Gisela Ingeborg Oster (1926), Rosa Oster geb. Ullmann (1891), Martha Regina Schmitz (1895), Betty Simon geb. Forst (1891), Maria Terwiel (1910).
*Das Bild des mutmaßlichen Täters wurde nachträglich entfernt. Inhalt und Aussage des Textes bleiben dadurch unberührt. Ich bitte um Verständnis. Ich möchte nicht, dass der Inhalt dieses Textes durch diese unscharfe Videoaufnahme des mutmaßlichen Täters auch nur ansatzweise eine reißerische Note bekommt. Timo Stein, 19.05.2017, 7:12 Uhr.
15 Kommentare
Sie wollten es
nie wissen
und wußten
es nie
sie haben gelernt
den Gleichklang
der Wellen
wie alles
vorüberrieselt
und rinnt
Sand streut sich
in die Erinnerung
und fegt sich
wieder hinweg
sie wollten es
nicht wisen
und wußten es nie
hatten nie eine Ahnung
von etwas gehabt
nie zittert
das Zellophan
es streicht sich
nur glatt
in der Helle
der Sonne
geblendet
sieht man
die Schatten
da nicht
alles bleibt Folie
ausgeschnitten
die Tat
Scherenschnitte
durchquert
rasterlos
nur Silhoetten
keine Ahnung
zucken die Schultern
nie etwas gesehen
gehört
unbemerkt ist alles
geschehen, von niemand
bemerkt
von außen kam alles
und ging wieder weg
hier blieb alles wie immer
nie passierte
änderte sich was
der Strom fließt
wie eh und je
an den Ufern vorbei
es vereist sich nichts mehr
das ist gut
es taut alles da auf
Frühling ist immer
Frühling am Rhein
hell blüht der Raps
gelb wie ein
Judenstern
23.5.2017
Friedrich G. Paff
Es wird wohl nie aufhören und so bin ich dankbar, dass es Leute gibt wie Sie, die uns nicht vergessen und vertuschen lassen!
Lieber Burgenblogger,
ich finde es sehr traurig, dass solche Steine geklaut werden.
Aber für viel bedenklicher finde ich es, dass Privatleute Videoaufnahmen von öffentlichen Straßen machen. Diese Überwachungsmentalität führt uns direkt wieder in Zeiten für die man in 50 Jahren Stolpersteine errichten muss.
Gruß
Volker
Lieber Herr Stein, der Artikel war sehr bewegend. Wie wäre es mit dem Aufruf zu einer Spendenaktion? – die Steine kosten nicht die Welt. Jeden Tag radele ich an einer Stelle in der Koblenzer Innenstadt vorbei, an der ich vier Stolpersteine sehe.
Sie können sich zwecks Spende an die Initiative “Boppard setzt Stolpersteine” wenden. Grüße!
Das war kein Raub, sondern ein Diebstahl.
Falsch!
Das war eine politisch motivierte Tat!
Hier wurde kein Fahrrad geklaut, sondern Stolpersteine.
Nein, das ist nicht falsch. Der Unterschied zwischen Raub und Diebstahl ist bedeutsam. Ob das eine politisch motivierte Tat war oder nicht, ich habe das jedenfalls nicht angezweifelt.
Ich frage mich gerade, wieso der erste Kommentar hier dem Täter gilt.
Ich finde diese Geschichte unerträglich….Bis heute waren mir solche Anfeindungen in der direkten Nähe meiner Heimat völlig fremd…Soll man mir sagen ich könnt ja besser Zeitung lesen….Und doch bin ich froh, daß mein Bild hier auf diese Art zurecht gedrückt wird. Ich hoffe, das schnell neue Stolpersteine gesetzt werden und drücke den Opfern mein Mitgefühl aus.
Der erste Kommentar gilt hier dem Täter, weil er noch nicht ermittelt ist und es den Anschein erweckte, als könnten die Aktivitäten des Burgenbloggers die Ermittlungsarbeit der Polizei behindern. Zum Mitgefühl mit den Opfern, bzw. genauer genommen deren Hinterbliebenen, gehört auch, so konsequent zu sein und Prioritäten zu setzen und mitzuhelfen, den Täter dingfest zu machen. Alles andere wäre tatenlose Heuchelei. Timo und ich mögen anderer Meinung darüber sein, wie man hier etwas erreichen kann. Darüber, dass etwas erreicht werden muss, sind wir offensichtlich einer Meinung. So what.
Neue Steine sind bestellt, die Initiative wird den Termin der Neuverlegung rechtzeitig hier auf dem Block , Rund um Boppard und Rheinzeitung Ausgabe Simmern bekanntgeben.
Lieber Timo, Deine erste Antwort kann ich nachvollziehen. Die zweite nicht so sehr. Vielleicht hätte in dem Sinn ein einfaches Abwarten geholfen – vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall kann ich Deine Beweggründe jetzt wesentlich besser verstehen, das war gut, dass Du das richtiggestellt hast. Nun passt es auch wieder richtig in das Bild von Deinem Engagement für die Stolpersteine. Es wäre schön, wenn Du am Ball bleibst und weiter berichtest, was aus der Sache wird.
Was treibt einen Burgenblogger dazu, ein Bild zu veröffentlichen, wenn er weiß, dass die Polizei nah dran ist und aus ermittlungstaktischen Gründen eben auf diese Veröffentlichung verzichtet? Selbstüberschätzung? Der Glaube, besser zu sein, als die Polizei erlaubt? Oder ist der Burgenblogger am Ende ein Prahlhans, der es nicht abwarten kann, bis die Polizei Vollzug meldet und selbst mit dem ihm „zugespielten“ Foto hausieren geht? Ich finde solche Ermittlungen auf eigene Faust kontraproduktiv. Alle Informationen gehören in die Hand der Polizei, auch das ominöse Foto des mutmaßlichen Täters. Exklusivität ist an dieser Stelle fehl am Platz! Schuster, beib bei Deinen Leisten!
Liebe Marion, das Veröffentlichen solcher Fotos ist immer eine Abwägung. Ich denke, das öffentliche Interesse ist hier höher zu bewerten. Auch, weil bereits in anderen Medien zu lesen war, dass es dieses Video gibt. Der Täter ist also bereits informiert. Ich hatte nicht den Eindruck, das dieses Delikt als politisches eingestuft wurde, daher der Nachdruck.
Und: „aus ermittlungstaktischen Gründen“ heißt so viel wie, bitte stellen Sie keine weiteren Fragen. Eine Floskel. Ich weiß aus anderen Quellen, dass die Gefahr nicht eben gering ist, dass diese Tat als einfache Diebstahlshandlung im Sande verläuft. Ich habe selbst mit mir gerungen, aber ich glaube, manchmal muss man in die Offensive gehen.