Der Sparkasten – eine aussterbende Tradition

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Ich glaube, es muss im September gewesen sein, als ich ihn zum ersten Mal entdeckte: den Sparkasten. Ein metallener Behälter, nicht größer als ein Stromkasten und mit einzelnen Fächern versehen. Diese Fächer wiederum besitzen kleine Geldeinwurfschlitzen. Ein wenig erinnert mich das Ganze an einen Adventskalender – nur eben mit 40 Türchen statt den üblichen 24. Entdeckt habe ich den Sparkasten an der Wand des Oberweseler Wirtshaus „Zum Lamm“.

An jenem Abend fragte ich den Wirt Wolfgang Dietrich, was es mit dem Kasten auf sich habe. Dieser erklärte mir kurz den Hintergrund und erwähnte eine baldige Ausschüttung der gesparten Summe. Der Abend wurde lang, meine Erinnerung verblasste und die Ausschüttung rückte näher.

Nun sitze ich Alexandra Dietrich gegenüber. Sie ist die Frau von Wolfgang Dietrich und nimmt sich Zeit zwischen den Vorbereitungen des Mittagstischs und den eingehenden Weinbestellungen, um mit mir über den Sparkasten an ihrer Wand zu reden. Die Ausschüttung der Sparsumme hätte ich zwar verpasst, aber das sei vielleicht auch ganz gut so, lächelt Alexandra, „an dem Abend wäre vermutlich keine Zeit gewesen, um ausführlich über den Sparkasten zu sprechen.“

Sparkästen – Gemeinschaftssparen

„Unser Sparkasten ist ein wahres Nostalgie-Stück“, sagt Alexandra und blickt auf den Beige lackierten Kasten. Seit 1960 hängt er an der Wand des „Lämmchens“. Das Wirtshaus „Lamm“, von vielen „Lämmchen“ genannt, befinde sich mittlerweile in der fünften Generation, sagt die gebürtige Kaiserslauterin lächelnd. Gegründet wurde das Gasthaus 1872.

„Mit diesem Schlüssel werden die Geldscheine hineingestopft.“ Alexandra hält einen kleinen silbernen, spachtelähnlichen Schlüssel in der Hand, der mit einer Kette an dem Sparkasten befestigt ist. Die Sparfächer sind von eins bis 40 nummeriert und haben kleine Schlitze, in die das Geld eingeworfen wird. Der Sparkasten selbst ist mit zwei verschiedenen Schlössern gesichert. So wird im Sinne des Vier-Augen-Prinzips gewährleistet, dass der Schrank von zwei Personen gleichzeitig geöffnet werden kann, die jeweils einen Schlüssel besitzen.
„Früher war ein Schlüssel bei der Bank und der andere befand sich beim Wirt. So war bei der im Zwei-Wochentakt stattfindenden Leerung natürlich immer ein Bankangestellter mit anwesend. Damit konnte sichergestellt werden, dass kein Geld in die falschen Hände kam. Die ersparte Summe wurde dann auf ein Konto bei der Bank eingezahlt.“
Heute habe die Bank natürlich keinen Schlüssel mehr, der zweite Schlüssel befinde sich bei einem Sparer. Das Vier-Augen-Prinzip sei auf diese Weise immer noch gewährleistet. „Wobei ich sagen kann, dass in all den Jahren noch keine Beschwerde kam.“
Die Sparer im Lämmchen verpflichten sich, alle zwei Wochen Geld einzuwerfen. Der Mindestbetrag liegt bei zwei Euro. Wenn ein Sparer nicht einzahlt, muss er eine Strafsumme von einem Euro zahlen.
„Unser diesjähriger Strafkönig durfte 13 Euro Strafe zahlen“, sagt Alexandra, „sein Sparkästchen gab er danach allerdings auch auf.“

Alle Fächer im Lämmchen sind belegt, es gebe sogar eine Warteliste. Auch Alexandra und ihr Ehemann Wolfgang sparen jeweils in ein Fach.
„Ich wundere mich oft, warum die anderen Gasthäuser oder Kneipen keine Sparkästen mehr haben“, sagt Alexandra. „Früher hingen überall welche: in Kneipen, Cafés, selbst in der Kreissparkasse. Das gemeinsame Sparen ist ein festes Wiedersehen für die Stammgäste. Wir haben kleine Spargruppen, die sich an bestimmten Wochentagen treffen und so einen schönen Abend verbringen. Und wir selbst haben als Gasthaus natürlich auch etwas davon.“
Die Kästen, die früher in fast allen Lokalitäten zu finden waren, seien so gut wie ausgestorben. In Urbar befinde sich noch einer, doch sonst wisse Alexandra von keinem weiteren Sparkasten.

Eine vorweihnachtliche Bescherung

Die Ausschüttung der Sparsumme findet einmal im Jahr an einem Samstag vor dem 1. Advent statt.
„An diesem Abend gibt es ein Menü für alle Sparer, für andere Gäste ist das Lämmchen dann geschlossen. Wir richten die Räumlichkeiten weihnachtlich her. Im Prinzip feiern wir eine gemeinsame Weihnachtsfeier.“
In diesem Jahr wurden insgesamt 56.730 Euro gespart. Viele wissen, was sie das über Jahr hinweg gespart haben, für manch einen ist der gesparte Betrag allerdings eine Überraschung. Wie für den Cousin von Wolfgang Dietrich. Dieser wirft jeden Abend sein Trinkgeld in sein Sparfach. Bei der Ausschüttung trifft er also auf ein unerwartetes Geschenk.
„In der Regel springt ein toller Urlaub für ihn raus“, verrät mir Alexandra.
„Eigentlich tut es hier keinem weh, in der Woche fünf Euro wegzulegen“, sagt Inge Dietrich-Becker, die Besitzerin des Lämmchens und Schwiegermutter von Alexandra.
„Meistens brauchen wir jedoch einen Anlass oder ein festes Ritual“, sage ich.
„Eben, und dafür sind die Sparkästen und das Gemeinschaftssparen ideal. Manche sparen das Geld für ihre Enkel, ein anderer nutzt es für eine besondere Anschaffung.“
Auf Wunsch können die Sparer bei der Ausschüttung einsehen, wie viel sie monatlich gespart haben. Alles wird dokumentiert, sodass kein Zweifel entsteht.
Inge Dietrich-Becker kann schon anhand der Falttechnik des Geldscheines den jeweiligen Sparer erkennen.
„Jeder hat seine eigene Technik, einen Schein zu falten. Über die Jahre habe ich gelernt, welcher Geldschein zu welchem Sparer gehört“, sagt Inge, „wenn ich bei der zweiwöchigen Leerung sehe, dass sich zu viel oder zu wenig als die übliche Sparsumme im Sparfach befindet, frage ich direkt nach, ob das Absicht sei. Die meisten sparen nämlich feste Beträge.“

Mir gefällt die Idee hinter den Sparkästen, es ist vielmehr ein geselliges Zusammensein, ein schöner gemeinsamer Abend, den man mit einer festen Gruppe verbringt – völlig anders als eine am Vermögensaufbau orientierte Motivation. Die Spargruppen treffen sich regelmäßig und das Gasthaus Lamm hat auch etwas davon.

Ich bleibe noch eine Weile mit Alexandra am Tisch sitzen, die mir erzählt, dass sie sich in ihrer neuen Heimat am Mittelrheintal sehr wohl fühlt.
„Jeden Morgen gehe ich um halb acht mit unserem Hund spazieren, laufe am Rhein entlang. Im Sommer gehe ich morgens im Hafenbecken schwimmen und abends oft ein zweites Mal in der Nähe von Bacharach. Dort ist es im Sonnenuntergang einfach unbeschreiblich schön: Der Rhein in diesen puren Farben – von lila bis gold.“
Zur Hochzeit schenkte ihr Wolfgang eine Kette: Ein eingearbeitetes Stück Schiefer verziert mit Trauben. Der Schiefer stehe für den Ort, in den sie kam, die Trauben für ihren Winzer, sagt sie lächelnd.

Wein und Masken

Neben dem Gasthaus betreibt die Familie Dietrich etwa fünf Hektar Weinanbau. Dazu gehören Riesling, Spätburgunder, Grauburgunder, Müller-Thurgau und Kerner.
„Ach ja und unser Frühburgunder, das ist unser Highlight, das hätte ich fast unterschlagen“, fährt Alexandra fort. „Im Mittelrheintal sind wir die einzigen, die den Wein verkaufen. Wolfgang fand die Sorte so toll und hat eigens dafür eine Weiterbildung in Assmanshausen beim Staatsweingut absolviert.“
Dass man nun auch im Mittelrheintal vermehrt Rotwein finde, liege mit Sicherheit am Klimawandel, meint sie. „Rotweine halten immer mehr Einzug in unsere Region. Der hiesige Riesling leidet im Sommer oft an Trockenstress und gedeiht mittlerweile an den schattigen Plätzen gut, die früher nachteilig waren.“
Der Weinanbau, die Lese und die spätere Verarbeitung finden auch heute ausschließlich in familiärer Hand statt.
„Wir machen das allein. Natürlich ist das viel Arbeit neben unserem Wirtshaus und den Gästezimmern. Aber es ist uns wichtig. Unterstützung beispielsweise bei der Lese erhalten wir von Familienmitgliedern oder Freunden.“

Nicht nur eigenen Wein erzeugen die Dietrichs, sondern auch eigene Obstschnäpse. „Wir haben einige Obstwiesen, auf denen zum Beispiel Weinbergspfirsische oder Mirabellen wachsen. Aus denen brennt Wolfgang dann Schnaps.“

Schließlich berichtet mir Alexandra noch von einer weiteren Tradition, die es so nicht mehr gibt: Das Maskenziehen. Früher habe es mal knapp 30 Wirtshäuser, Straußen- oder Heckenwirtschaften in Oberwesel gegeben. Heute sind es etwa fünf. Eine besondere Tradition, die auch mit dem Rückgang der Gaststuben verschwunden ist, sei das Maskenziehen.
„Maskenziehen?“, sehe ich Alexandra fragend an.
„Das war mal eine Karnevalstradition in Oberwesel. Am Faschingsdienstag trugen die Leute hier Masken, teilweise auch Handschuhe, sodass man nicht mehr erkennen konnte, wer sich hinter der Verkleidung verbarg.“
„Kann ich mir die Masken wie die venezianischen Masken vorstellen?“, frage ich.
„Ja, genau. Die Jecken trugen tagsüber die Masken, zogen von Wirtshaus zu Wirtshaus und erst um Mitternacht zum Aschermittwoch wurden die Masken gezogen, die Gesichter gezeigt. Da war manch einer ganz schön überrascht, mit wem er da den ganzen Tag getanzt und gefeiert hat.“
„Das glaube ich. Schade, dass es die Tradition nicht mehr gibt. Sie klingt wirklich toll.“
Ich stelle mir Oberwesel voller weißer Masken vor und der Karneval hat so gleich eine ganz andere Wirkung auf mich.

Ich bedanke mich bei Alexandra, die sich die Zeit genommen hat, um mit mir über den Sparkasten, seine festen Sparrituale und Gruppen zu sprechen. Als ich aufbreche, wirft dann auch noch ein Gast sein Wechselgeld in einen der Schlitze. Wie schön, denke ich.

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