Der Mittelrhein muss gar nicht von Bayern lernen, wie es der Landrat gefordert hat. Ein bisschen Pfalz reicht völlig. Dampfnudelgedanken.
Und ich habe es dann doch getan. Einen Baum umarmt. Einen richtig großen. Und schönen. Bereits in Ausübung dieses gefühlsduseligen Manövers tat er mir leid, dieser alte Bursche. Wenn Bäume Arme hätten, sie würden alles tun, aber sicherlich keine Menschen umarmen. Sie würden uns reihenweise abholzen, ganz sicher, aber umarmen?
Wobei, strenggenommen kann von Umarmung eigentlich gar keine Rede sein. Bei einer echten Umarmung sollten mindestens zwei Drittel des Umarmten umschlossen werden. Das ist ungeschriebenes Umarmungsgesetz. Ansonsten zählt eine Umarmung nicht als Umarmung, sondern als dilettantische Begrüßungsformel. Ich klebte also eher an diesem Baum von einem Baum, als dass ich umarmte.
Was war passiert? Im Grunde nicht viel.
Ich war einfach dankbar. Und er war gerade da.
Ich mochte ihn einfach dafür, dass er kein Instagramprofil hatte. Dafür, dass sein Leben hier draußen stattfand und nicht auf Film und Folie – nur darauf wartend, entwickelt (oder schlimmer noch mit Herzchen etikettiert) zu werden.
Und ich mochte die Welt dafür, dass sie mich gewähren ließ.
Mich aushielt, dort oben auf der Burg. Und dort unten, am Baum, am Boden.
Ich kletterte schließlich hinauf. Auf diesen Baum. Ausnahmsweise einmal nicht aus Angst, sondern um die Welt zu sehen.
Im Grunde habe ich doppelt fremd umarmt. Zum einen eine wehrlose Pflanze. Zum anderen eine, die gar nicht am Mittelrhein steht. Denn mein Freund, der Baum stand und steht in der Pfalz. Eine gute Stunde mit dem Auto und ich war inmitten von Wein und aufgerolltem Weizen. Immer entlang der Weinstraße. Mitten durch eine satte Landschaft, die selbst Menschen in Funktionskleidung verkraftet. Der Pfälzerwald zieht dann eine kurvige Linie in den grelltrüben Sommertag. Trauben beginnen, rot zu werden. Ganz ohne Scham. Wie selbstverständlich und immer. Die Häuser bis an die Straße gebaut. Und über den Städten verkünden sie ihre Kerwe.
Dann beginnen Festbänke und Weinbuden zu wandern. Von Dorf zu Dorf. Entenangelbude und Striezelschuppen brav hinterher. Der Wein steht Spalier quer zur Straße. Immer so, dass der Blick aus dem fahrenden Auto eine Art Weintunnel mitfahren lässt – und der Wingert zum Daumenkino wird.
Natürlich ist auch der Mittelrhein mit in die Pfalz gefahren. Und die Frage, ob die Menschen in der Pfalz eventuell das haben, was so viele am Mittelrhein beklagen. Etwas Identitätsstiftendes, eine Art Wir-Gefühl. Worin liegt der Unterschied? Der Rhein sagt Prost, die Pfalz zum Wohl? So ungefähr.
Ich dachte an die Worte des Landrates, der ein bayerisches Mia-san-mia-Gefühl für den Mittelrhein gefordert hatte. Offen gesagt, halte ich davon überhaupt nichts. Ich weiß nicht, ob es diesen aufgeblähten Lokalpatriotismus braucht. Schon gar nicht politisch verordnet. Aber wenn man schon nach Orientierung sucht, muss man vielleicht gar nicht so weit südlich schauen. Ich bin jetzt mal ungerecht: In der Pfalz machen sie die Gläser voll. Also, ich meine richtig voll. Dort verzichten sie auf Plastikstühle. Dort hat man das Gefühl, ein bisschen mehr als nur willkommen zu sein. Dort muss man nicht sofort wieder aufstehen, weil jeden Moment ein Reisebus erwartet wird. Dort macht das Essen Spaß.
Natürlich gibt es Spitzengastronomie am Mittelrhein. Und auch Spitzenfastfood. Aber es fehlt doch irgendwie ein Dazwischen. Vielleicht sind es zu viele, die davon ausgehen, dass der Gast nur einmal kommt. Auch weiß ich bis heute nicht so recht, wofür der Mittelrhein eigentlich kulinarisch steht. Stehen möchte. Dass es am Mittelrhein keinen „Pfälzer Teller“ gibt, kann ich ja gerade so noch akzeptieren. Keinen Saumagen mit Bratwurst und Leberknödel. Aber warum zum Teufel gibt es hier keine Dampfnudeln? Und ich meine die echten, die mit Salzkruste.
Und dann frage ich mich, ob der Mittelrheiner es aushält, wenn man ihm die bucklige Verwandtschaft aus der Pfalz als Muster vor die Nase hält.
Und dann sitze ich wieder im Baum und werde versöhnlich. Denke an die vielen Menschen, denen ich in meinem normalen Leben nie begegnet wäre. Denke an völlig Unbekannte, die mich fröhlich beschwatzen, mir schreiben und mich wie selbstverständlich zu sich nach Hause einladen. Und ich denke an Leonid. Natürlich an Leonid. Ich liebe diesen kleinen Kerl. Das Erste, was ich morgens höre auf der Burg, ist das Kratzen seiner Harke. Das kurze, raue Krächzen seines Rechens, wenn er die Wegkiesel in Position bringt. Leonid arbeitet bei jedem Wetter, steht in den Rosen, pflegt den Garten, macht Führungen, die Kasse, putzt das Klo. Leonid ist mein Held. Ich werde ihn vermissen. Schon jetzt. Zu Leonids Charakter gehören vor allem Demut und Bescheidenheit. Er würde nicht wollen, dass ich über ihn schreibe. Deswegen halte ich mich kurz. Deswegen habe ich nur ein paar Sätze. Für Leo. Die müssen aber sein. Ein bisschen versteck, hier unten.
Leo ist es auch, der mich mit ukrainischen Weisheiten versorgt. „Deutsche sind sehr fleißig“, sagt er dann, um grinsend hinterherzuschieben: „Aber es gibt viele, die machen alles, um nichts zu tun.“
Was für ein Satz.
Einer, der mit voller Wucht wiederkommt. Ungefähr dann, wenn ich noch ein bisschen im Auto sitze. Nur so lange, bis das Lied zu Ende ist. Der Motor ist längst aus, knackt und zuckt verhalten in die Nacht. Die Lichter der vorbeiziehenden Autos blenden. Die verregnete Scheibe macht aus ihnen gelbe Augen mit blauen Rändern.
Der Regen fällt durch die Nacht. Nicht nur er hat vergessen, das eigentlich Sommer ist.
Ganz langsam beginnt die Welt dann hinter der Windschutzscheibe zu verschwinden. In einigen Fenstern zur Straße brennt noch Licht. Vielleicht schaut jemand raus. Vielleicht hört jemand mit. Und sieht dann einen parkenden Astronauten, der heimlich seine Lieder hört, eine letzte Zigarette raucht und auf Worte hofft, deren Bedeutung er doch eigentlich längst kennt. Er wartet dann auf diese eine Zeile. Darauf, dass ihm jemand sagt, was er doch eigentlich schon weiß. Dass ihm jemand sagt, was er doch eigentlich längst fühlt. Weil er in diesen Momenten nicht sicher ist, ob der Mensch wirklich mehr als einmal lieben kann.
Im nächsten Bild sitze ich dann auf der Festung. Es regnet noch immer. Die Touristen kommen trotzdem. Über ihren Köpfen sind bunte Kreise gespannt. Wandernde Pilzgruppen schieben Schirm und Schild übers Pflaster. Auf dem Rhein werden die Schiffe auch von oben nass. Die Decks der Boote sind verlassen. Kein Blitz jagt mehr die Festung hoch. Der Regen zitiert sich noch immer selbst.
Und doch geht der Rhein in Flammen auf. Das macht er noch jedes Jahr.
5 Kommentare
ja, das herz geht auf-
und hoffentlich auch die ideenkisten der rheinanlieger
gastlicher und freundlicher zu werden zu den besuchern
und neues auszuprobieren
nach dem vorbild des sympathischen burgenbloggers!
Guter Text! Aber was für ein trostloses farbloses Foto! Macht deutlich mehr Lust zum weglaufen statt zum drauf klicken… Gnade! Bitte keine solch düsteren Grusel-Fotos mehr! Dann lieber reiner Text ganz ohne Foto (weniger ist mehr)!
Der sympathische Philosoph unter den Burgenbloggern … da geht dem Pfälzer und dem Mittelrheiner (und allen anderen wahrscheinlich auch) das Herz auf. Dankeschön
Als Pfälzerin bedanke ich mich ganz herzlich!
Das ist ein solches Vergnügen: Einen Burgenblogger zu lesen, der einen unbestechlichen Blick hat, ohne zu verletzen,
der brilliant formuliert, der kritisiert ohne Selbstgefälligkeit und den in den dunkelsten Momenten die Menschenliebe nicht verlässt. Was für ein Unterschied zum Vorgänger…
Chapeau!