Ich bin in Koblenz unterwegs. Es ist meine letzte Geschichte. Und wie das mit letzten Geschichten so ist, laufen sie nicht ganz, wie sie sollen. Das Schreiben fühlt sich gerade zäh an, schwierig, aber vielleicht liegt das auch am Abschiednehmen. Eine Weihnachtsgeschichte soll es jedenfalls werden, das Koblenzer Kreuzchen ihr Spielort. Und ich werde eine Route gehen, die man nicht so einfach findet. Ungewöhnlich. Anders. Koblenz Neuendorf – zwischen Industriegebiet, Wohnsiedlung, Feste Franz, Kaserne und Volkspark
Das Burgenblogger-Auto parke ich in einer Seitenstraße vor einem großen Automobilhändler. Ich frage mich, ob ich hier wirklich etwas Interessantes finde, und wonach ich eigentlich suche. Von einer Plakatwand sieht mich Freddy Mercury an, er ist zwischen Bauhaus-Werbung und Musikgala gequetscht. „Don’t stop me now (‚cause I’m having a good time)“, singt er in meinen Ohren und ich beschließe meiner Karte, meinem Plan nachzugehen und zu sehen, was kommt.
Als ich die Brücke der Von-Kuhl-Straße über die B9 in Richtung Volkspark überquere, blicke ich direkt auf ein Hochhaus. Die Fenster des Gebäudes sind unterschiedlich weihnachtlich geschmückt: Im grellen Tageslicht blinken bunte Lichterketten in wilden Rhythmen. Ein einfacher Papierstern baumelt hinter der Glastür eines Balkons und manch einer verzichtet ganz auf Lametta und LEDs.
Dann gibt es noch drei Weihnachtsmänner: aus dem fünften Stockwerk stürzt sich gerade einer über die Brüstung. Im selbigen Stockwerk sitzt ein zweiter auf dem Geländer des Balkons. Ganz schön wagemutig, denke ich. Im darunter liegenden zweiten Stockwerk klettert der dritte Weihnachtsmann eine Leiter hoch.
Scheint als wüssten sie auch noch nicht so recht, was mit sie mit sich anfangen sollen. Vielleicht liegt das am Sonnenschein, den 11 Grad oder den fehlenden Rentieren – meine Weihnachtsstimmung will sich jedenfalls noch nicht so wirklich einstellen. Ich gehe weiter in den Volkspark, den ich erstmal für mich alleine habe. Ich möchte auf die Erhöhung, diesen kleinen Berg im Park, um eine andere Aussicht auf Koblenz zu haben als von der Festung Ehrenbreitstein. Eine Weile bleibe ich dort oben stehen und genieße den Blick auf die Stadt. Ich sehe zwischen den Bäumen hindurch, feine Verästelungen legen sich über Hauswände, Balkone und Straßenlaternen. Ein älteres Ehepaar kommt langsam zu mir den Hügel hoch.
Er: „Es ist das zweite Mal, dass wir hier hoch kommen, dabei haben wir fast 40 Jahre in Koblenz gewohnt.“
Sie: „Die Aussicht ist herrlich.“
Ich: „Ja, da haben Sie recht.“
Er: „Man entdeckt doch immer wieder Neues.“
Sie: „Zuvor waren wir auf dem Friedhof“, sie deutet auf das Friedhofsgelände, das sich wenige Meter unter uns befindet, „waren Sie schon einmal dort?“
Ich: „Nein.“
Er: „Mhmm, was machen Sie hier eigentlich, außer die Aussicht zu genießen?“ Er blickt auf mein blaues Notizheft und den Stift in meiner Hand.
Ich: „Ich bin auf der Suche nach den drei Weisen aus dem Morgenland.“ Und schicke der Irritation in seinem Gesicht ein Lächeln hinter her. „Naja, nicht ganz. Ich gehe spazieren und schaue mir den Stadtteil Koblenz Neuendorf an.“
Sie blickt mich stumm an, während er mich noch einmal mustert: „Kommen Sie aus dem Norden?“
Ich: „Nein, warum?“
Er: „Irgendwie klingen Sie so.“
Ich: „Mhm, da muss ich Sie enttäuschen. Auf der anderen Seite ist es immer eine Frage der Perspektive, wo nun Norden und Süden beginnt.“
Er lacht.
Sie: „Die drei Weisen können Sie eventuell auf dem Friedhof dort unten finden.“
Ich: „Wie meinen Sie das?“
Sie: „Naja, es sind eher drei Generationen, drei Frauen: Tochter, Mutter und Großmutter. Sie stehen gerade vor einem der Gräber der Sinti und Roma.“
Ich: „Ist der Friedhof unterhalb von uns ein Friedhof der Sinti und Roma?“
Sie: „Nein, aber es wurden viele von ihnen dort beerdigt.“
Sie erklärt mir daraufhin, dass sich auf dem Friedhof einige Gräber der Familie Reinhardt oder Steinbach befinden, der Koblenzer Sinti-Familien.
Sie: „Schauen Sie sich die Gräber an, vielleicht finden sie ja noch die drei Frauen.“
Ich: „Danke, das mache ich. Frohes Fest.“
Er: „Ebenso und viel Erfolg.“
Als ich an dem beschriebenen Grab eintreffe, sind die drei Frauen weg. Trotzdem gehe ich noch ein paar Wege entlang, laufe das Friedhofsgelände ab. Sehe mir die zum Teil liebevoll weihnachtlich geschmückten Gräber an. Auf einem Grab befindet sich ein zwei Meter hoher Tannenbaum mit weißen und roten Christbaumkugeln dazu Lametta und Strohsterne. Außerdem steht ein Wohnwagen aus Stein auf dem Grab.
Die Tradition des Unterwegsseins, denke ich. Jede Reise hat einen Anfang und ein Ende. Ein wenig pathetisch. Ich setze mich auf eine Bank und schließe für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffne, sitzt auf einmal eine Frau neben mir. Sie hat goldblonde, schulterlange Haare, trägt Schmuck mit bunten Steinen, ich schätze sie auf Mitte 70 und ihre rot leuchtenden Lippen halten mich für einen Moment fest.
„Viel zu warm für dieses ganze Lametta“, sagt sie mit verrauchter Stimme.
„Ja, stimmt schon“, sage ich.
„Wat machste auf dem Friedhof?“, fragt sie, klingt aber nicht wirklich interessiert.
„Ich bin auf der Suche nach den… ach, egal. Ich gehe spazieren, also ging und jetzt sitze ich hier.“
„Na dann“, sagt sie und blickt stumm gerade aus.
„Ja“, sage ich und atme lange aus.
„Haste wat auf dem Herzen, Kindchen?“
„Nee, eigentlich nicht.“
„Eigentlich ist kein Wort“, sagt sie und lächelt seltsam.
„Das habe ich schon einmal gehört“, sehe ich sie an. Ein Junge läuft vorbei. Er hat einen Pagenschnitt und Knickerbocker an. Seltsam, denke ich. Er blickt die Frau neben mir an, nickt kurz und sagt:
„Tach, Frau Karbach.“
„Hallo Jean“, sagt sie und lächelt. Dann beginnt er, ein Karnevalslied zu pfeifen, und holt eine Zwille aus seiner Jackentasche.
Sie, die nun Frau Karbach heißt, sieht mich wieder an:
„Kind, erzähl. Ich hab nicht den ganzen Tach Zeit.“
„Eigentlich bin ich, also war ich diejenige, die in letzter Zeit zugehört hat…“, sage ich nach Worten suchend, denn einfach ins Blaue hinein zu erzählen, gehört nicht zu meinen Stärken.
„Das mit dem Wort „eigentlich“ muss ich kein zweites Mal erklären, oder?“, sagt sie und zündet sich eine Zigarette an.
„Nein, schon gut.“ Und dann beginne ich, ihr von meinem letzten halben Jahr zu erzählen, vom Einzug auf die Burg Sooneck, der ersten Nacht in diesem alten Gemäuer, dem Mondschein, der mich wach machte und den Spinnen unter meinem Bett, während sie genüsslich an ihrer Zigarette zieht. Ich erzähle ihr vom Rhein, der wunderbaren Landschaft zwischen Koblenz und Bingen, all den tollen Menschen, denen ich begegnet bin, hin und wieder nickt sie. „Ich dachte, der Sommer am Mittelrheintal würde ewig so weitergehen, aber die Zeit, naja, bleibt nicht stehen. Klingt banal, wird einem erst am Ende bewusst.“ Ich fahre mit ihr gedanklich nach Ehrenthal, lasse „The Other Side“ von den Red Hot Chili Peppers laufen, sehe die Lady Anne vor mir im Wasser treiben und Fledermäuse umher fliegen. In Bernies Blues Bar höre noch einmal Gov’t Mule.
„Scheint ein netter Kerl zu sein“, sagt Frau Karbach und zündet sich die nächste Zigarette an.
„Ja“, sage ich und sehe den blauen Qualm nach oben steigen. „Ehrlich gesagt, kann ich ein halbes Jahr nicht in ein paar Sätzen zusammenfassen, das ist es, was mich bewegt.“
„Musste das denn?“, fragt sie und atmet langsam den Rauch aus.
„Nein, eigentlich nicht. Aber vielleicht schon. Zumindest habe ich mir das so vorgenommen.“
„Lass das mal mit dem eigentlich.“
„Ja.“
„Ich würde sagen, das war ’ne prägende Zeit, Kindchen. Behalt’s im Herzen und sei dankbar.“
„Das tue ich sowieso.“
„Na, siehste, wat willste mehr?“, sagt sie, als wäre damit alles gesagt.
Auf einmal steht der Junge mit dem Pagenschnitt und den Knickerbockern wieder vor uns, in seiner rechten Hand hält er immer noch die Zwille, in der linken hat er zwei Tannenzapfen. Er grinst frech.
„Ich muss jetzt los“, sagt Frau Karbach und sieht dann zu dem Jungen, der Jean heißt.
„Danke fürs Zuhören“, sage ich. Sie lächelt nur, steht auf und packt den Jungen an der Schulter. Er beginnt wieder zu pfeifen und sie stimmt nach ein paar Metern mit ein. Ich sehe den beiden hinter her, wie sie in ein goldenes Cabrio steigen und wegfahren.
Seltsam, denke ich noch einmal, irgendwie hat diese Frau recht. Ich beschließe, meine geplante Route abzubrechen, steige in das Burgenblogger-Auto und fahre ein letztes Mal am Rhein entlang. Ich sehe der winterlichen Sonne dabei zu, wie sie untergeht. Diese Farben hat der Himmel nur in dieser Jahreszeit. Der Rhein fließt in einem leichten Grau-Rosa in die Nacht und ich versuche noch einmal alles aufzusaugen, gleichzeitig wissend, dass das nicht funktionieren wird. Doch ein bisschen bleibt schon.
Ich bin dankbar für diese wunderbare Zeit. Es ist schade Abschied zu nehmen, doch das gehört dazu. Und zwischen meiner Wehmut mischt sich das Gefühl des Glücks. Glück und Freude über all die besonderen Menschen, die ich in dieser Zeit kennenlernen durfte, über diese prägende und einzigartige Zeit.
Danken möchte ich auch der Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz, der Rhein-Zeitung und der GDKE, denn ohne die drei Projektpartner würde es das Wunderbare des Burgenbloggens nicht geben.
Alles Gute und ein Frohes Fest,
Mareike Rabea Knevels
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