Halbzeit auf der Burg. Grund genug, um einen unvollständigen Blick zurückzuwerfen.
Ordnung muss sein. Struktur sowieso. Also bilanziere ich. Die Hälfte der sechs Monate ist um. Und alle Fragen offen. Obwohl, nein, das wäre zu einfach. Einiges hat sich ja auch geklärt.
Ich weiß jetzt beispielsweise, dass man auf einer Burg nicht bei offenem Fenster schlafen sollte. Gegen offene Fenster ist im Grunde überhaupt gar nichts einzuwenden. Und auch Schlaf ist nicht per se böse. Aber in Kombination mit einer Burg kann daraus für den Burgbewohner schnell eine ungünstige Gemengelage entstehen.
Es ist dann nicht völlig ausgeschlossen, dass plötzlich mitten in der Nacht zwei Dutzend Fledermäuse in deinem Zimmer kreisen, die nicht einen Gedanken daran verschwenden, die Wohnung freiwillig wieder zu verlassen. Wenn du Glück hast, ist dann gerade deine kleine Schwester zu Besuch auf der Burg. Du weckst sie, drückst ihr einen präparierten Mob in die Hand, wünscht ihr „gute Fahrt“ und schiebst sie behände in das Fledermauszimmer. Aber das Glück musst du erstmal haben.
Ich hatte es. Und noch bevor meine Schwester so richtig wach war, hatte sie es bereits mit einer ganzen Kompanie kleiner Vampire aufgenommen. Die Mäuse kreiselten gegen den Uhrzeigersinn, und die kleine Schwester stand da wie der träumerische Held, der zur Heldentat getragen wird – inmitten einer sonderbaren Realität, die aus dünnhäutigem Flügelschlag und musischem Ultraschall bestand. Sie machte die Burg zu ihrer Manege und betörte und dompteurte das Mäusepack mit einem Plastikmob, um dessen Ende eine Fußmatte gewickelt war.
Es gelang ihr schließlich, die Fledermäuse in ein Zimmer zu treiben. Und nachdem wir eine Weile wild gestikulierend wie Verkehrspolizisten auf LSD die Luftmäuse durch das Zimmer fächerten, verschwanden die irgendwann gelangweilt wieder von ganz alleine.
Dann erinnere ich mich an meine erste Fahrt durch Koblenz. Ich saß in einem Taxi. Nun muss man nicht Wittgenstein gelesen haben, um zu ahnen, dass die Welt dort endet, wo man sie nicht mehr beschreiben kann. Meine alte Welt endete in Taxi 35. Der Taxifahrer erzählte in einer Mundart, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb. Ich lauschte bemüht, nach vorne gebeugt, Falten produzierend und antizipierte. Er zeichnete auf der kurzen Fahrt ein ungeheuer lebendiges und geschichtsträchtiges Bild von Stadt und Rhein. Und viel wichtiger noch: Er verpackte die Botschaft in ordentlich Humor. Dann redeten wir über irgendetwas Belangloses. Und landeten schließlich bei der Liebe. Ja, wo auch sonst? Ihm sei auch mal die Frau durchgegangen. Er sagte wirklich „durchgegangen“. Ich mochte diese Formulierung und nahm mir vor, sie zukünftig auch zu verwenden.
Schließlich zog ich auf die Burg. Es folgten erste Nächte und Tage. Der Verstand mühte sich um Orientierung. Der Bauch um Wein und Leberwurst. Es folgten die ersten Begegnungen mit Menschen im Tal, die mit einer Idee durch die Welt gehen. Sie öffneten mir wie selbstverständlich ihre Türen, manchmal sogar ihr Herz. Daneben der Rhein, der ihnen Geschichte und Geschichten vor die Haustür spült.
Dann die Fahrten durchs Tal. Vorbei an Baustellenampeln, die immer erstmal auf Rot stehen, egal wann und von welcher Seite du sie anfährst. Du begreifst, dass die Loreley im Grunde wie der Nordpol ist. Erst Fahne und Markierung machen sie unterscheidbar und interessant. Denn eigentlich ist alles Loreley, alles Schiefer und schön.
Du fährst weiter und vorbei am malenden Toilettenmann in Bacharach, stärkst dich mit Sauerkrautflammkuchen und tankst im Karussellbiergarten. Du biegst falsch ab und landest in Steeg. Es ist Weinblütenfest, blauweiße Fähnchen sind quer über die engen Gässchen gespannt. Der kleine Gang wird hier dein Freund. Land und Felder öffnen sich, die Weite beginnt zu wirken. Feldwege verlieren sich links und rechts im Horizont, dahinter beginnt das Nichts, irgendwann nennt es sich Rheinböllen. Plötzlich bist du im LKW-Aral-Bermuda-Dreieck, statt Burg wacht über allem ein Erotik-Shop und irgendwann kommt Stromberg.
Du fährst und triffst auf Stroh-Minions und Schießstand in Henschhausen. Dort oben, wo die Menschen wie wilder Wein am Hang wachsen. Dort stehen und leben sie ein Leben lang schief. Und du ruckelst wieder runter ins Tal, den wilden Serpentinen folgend, ohne zu schalten – im Polizeigang nach Hause.
In Koblenz rollt dann einer immer mit den Augen. Und der Schängel, dieser Schlingel, spuckt dir aufs Smartphone. Er hat gute Gründe. Und jeder Koblenzer erklärt dir, warum du unbedingt mal an die Mosel fahren musst. Mal ehrlich, die haben gar keine Ahnung vom Mittelrhein.
In Bingen wartet die Nacht der Verführung, warten prämierte Weine mit Maracuja-Geschmack und Weinproben mit Weinprinzessinnen, die dich angemessen unter den Tisch saufen. Ein anderes Mal geht es vorbei an der größten handgeschnitzten, freihängenden Kuckucksuhr in St. Goar. Und immer liegt ein Hauch Gran Canaria in der Luft. Jene Insel im Atlantik, aus der schmerzbefreite Deutsche die größte Eckkneipe der Welt gemacht haben. In Kaub dann ist Blücher überall. Du fährst wieder und hoffst, dass dieses Mal Napoleon gewinnt. Vorbei an Hoschi, Corinna und Dachdecker Ochs. Die sind öfter hier und haben Stühle mit ihren Namen drauf. Und immer wieder alte Männer, die aus dem ersten Stock alter Häuser gucken.
Du fährst nach Oberwesel und liest auf einem Schild eines Restaurants, das mit durchgehend warmer Küche wirbt: „Zur Winterzeit geschlossen“. Am heißesten Tag des Jahres. Und triffst gleichzeitig auf eine digitale Infrastruktur, die beispiellos ist, entdeckst ein Meteoritenmuseum und verträumst einen Termin in einer Strandbar mit Spotify.
Du fährst weiter durch dieses rätselhafte Urbar. Immer wieder Urbar. Ein Dorf wie Hase und Igel. Gibt es das tatsächlich zwei Mal? Es dauert Wochen, bis man das kapiert. Welches ist das echte? Und gibt es ein falsches Urbar?
In Boppard fährst du Seilbahn und wachst in einer Heidelandschaft auf. Auf Spay folgt Brey. Aus Brey wird Rhens. Filsen hat die längste Sitzbank am Rhein. Und wirbt damit! Der Foodtruck in Osterspai die besten Burger. Kurz vor Braubach taucht dann die weiße Lady auf, die Marksburg. Holla. Wunderschön. Aber bitte nicht zu nah ran.
Du fährst und fährst. Durch Lorch hindurch ins Wispertal. Der Wald öffnet und verschluckt dich mit aller Macht. Du fährst rechts ran, wühlst panisch in deinen CDs, weil du nicht weißt, welche Musik dieser Kulisse gerecht werden kann. Pink Floyd. Dark side of the moon. Ja, das geht. Nebel steigt auf, die Bäume dampfen, die Straßen aufgeplatzt und zugenäht. Du ruckelst vorbei an Forellenzucht und alter Kaffeehausvilla. Jugendstil trifft Fachwerk und verliert sich vor Bikerschuppen. Immer tiefer dringst du ein ins vergessene Tal, den Freistaat Flaschenhals. Dieses Gebiet, das nach dem Ersten Weltkrieg vier Jahre lang unbesetzt geblieben und abgeschnitten war. Der Wisperwind schiebt kalte Luft ins Tal, Ruinen verstecken sich. Haneck, Geroldstein, Lauksburg, Kammerburg, Burg Rheinberg und Nollig.
Und dann ist da plötzlich dieses Licht. Im Juli. Daran werde ich mich immer erinnern – an dieses Licht. Die Venus schiebt sich nachts zwischen Berg und Himmel. Und guckt direkt in mein Fenster. Über Burg und Tal malt sie gelb-grüne Lichtfäden in den Nachthimmel. Und rotiert entgegengesetzt zur Erde. Nur viel langsamer. Viel geduldiger. Eine Umdrehung, ein Venustag, dauert 243 Erdentage. Diese Lady nimmt sich Zeit. Und strahlt. Und wacht. Bis die Sonne kommt. Und alles schluckt.
13 Kommentare
Das ist grandios, vielen Dank!
Auf Brey folgt Spay . Eine Rhenserin. Bitte genauso schön ab jetzt über Koblenz!
Man taucht ab in eine neue, magische Welt. Auch wenn ich jetzt schon tatsächlich 58 Jahre „Kowelenzer Schängelche“ bin. Vielen Dank für diese wunderbaren , neuen Einblicke in eine Region, die ich so noch nie wahrgenommen hatte.
das war sehr sehr sehr gut
und auch der höfliche auftritt im swf mainzer fernsehen. danke
Chapeau! Fein formuliert. Bitte weiter so????????
Wie immer wunderbar!
Der Verstand mühte sich um Orientierung. Der Bauch um Wein und Leberwurst. Also, wenn das nicht literarisches Duett ist… :-)
Aller guten Dinge sind 3!
Die erste wollte/konnte nicht.
Der zweite war langweilig & oberflächlich.
Der dritte Burgenblogger ist super!
Bravo Timo!
Ich mag Dich! Dieser Schreibstil ist naturgegebenes Talent und ich mag jede Deiner Zeilen. Sie fließen, erfrischen, betören und liebkosen. Schenk doch bitte diesem beschaulichen Kleinod der Mittelrhein-Natur ein gutes Lese-Buch. Rolf Künster, der mir im Herzen lieb und der Buchkunst treu verschrieben ist, wird es hübsch gestalten und Du den Menschen hier und dort ein würdiges Geschenk sein. Schön, Deine Gedanken und Sichtweisen zu hören, neu den Menschen zu begegnen, die mit mir sind. Auch ich komme nicht aus dieser Gegend, war und bin verzückt, immer wieder, vor ländlicher Schönheit, Natürlichkeit und unbesorgten Ruh‘. Verwirrt zuweilen, da politisch die Globalisierung zwar scharfe Schnitte hinterlässt, sie aber stoisch wegkomplimentiert werden, sehr zu meinem Bedauern. Was ist in Rheinland-Pfalz und am Mittelrhein anders, als an vielen anderen Stellen Deutschlands. Hat der betörende Gesang der Loreley solch starke Wirkung, dass man Gefecht und Narrenei nicht hören kann? Ich würde gern meine Fragen stellen, bekomme ich Gelegenheit? Liebe Grüße aus Koblenz, Sabiene Jahn
Sabiene, die Idee mit dem Buch ist wunderbar. Ich mag ihn auch… Timo hat einen Schreibstil, der süchtig macht und in großartiger Weise die Schönheit, die Besonderheiten und die Lebensart unserer schönen zweiten Heimat auf den Punkt bringt. Liebe Grüße aus Neuwied Barbara
best burgenblogger ever
Haha, Angst und Schrecken auf Burg Sooneck… Hunter S. Thompson hätte seinen Spaß gehabt. :)
Spay. Es heisst Spay. Grumpf.