Nur ein Spaziergang

von
Spazieren auf dem Martinspfad
Spazieren auf dem Martinspfad

Wer am Mittelrhein nicht spazieren geht, ist selbst schuld. Allein der Kopf will nicht so recht frei werden.

Ein echter Spaziergang hat kein Ziel. Er darf keines haben. Ein echter Spaziergang hat allenfalls die Freiheit der Ziellosigkeit zum Ziel. Nur dann kann dem Spazierenden so etwas widerfahren, wie „das bezaubernde Gefühl, als sinke er in die Erde hinab“.  So hat es der Schriftsteller Robert Walser formuliert. Er, der Spaziergänger unter den Spaziergängern. Niemand sollte spazieren gehen, ohne an Robert Walser zu denken.

Insofern mache ich dieser Tage eine Menge unechter Spaziergänge. Denn ich habe ein klares Ziel. In gesunder Regelmäßigkeit gehe ich den Martinspfad, Teil des Rheinburgenweges, hoch zum Siebenburgenblick. Und wieder zurück. Es ist der Versuch, der Welt eine Routine zu geben. Menschen brauchen bekanntlich Routinen. Damit das bisschen vom Leben, was nicht strukturiert ist, in einem originelleren Licht erscheint. Und ich will auch eine haben.

Ich gehe diesen Pfad in der Regel frühmorgens. Bei dieser Formulierung sehe ich meinen Burgverwalter mit dem Kopf schütteln. Er hielte diese Zeitangabe sicher für einen bodenlosen Euphemismus. Also gut, sagen wir nach dem Aufstehen. Ich gehe also nach dem Aufstehen diesen Pfad. Dann habe ich immer einen Apfel dabei. Und das, was nach ca. 600 Schritten dann noch vom Apfel übrig ist, fliegt im hohen Bogen in den Soonwald. Es ist mein bescheidener Beitrag, das Ökosystem vor ein paar handfeste Aufgaben zu stellen. Wenn der Mischwald sich gegen die paar Apfelkerne nicht zu wehren weiß, dann hat der ganz andere Probleme als einen burgenbloggenden Apfelanarchisten.

Erst dachte ich, ich müsste diese Spaziergänge machen, um einen Ausgleich zu finden, den Kopf frei zu kriegen. So heißt es doch. Den Kopf frei kriegen. Was für eine Formulierung. Was für ein Schwachsinn. Das hieße ja, man geht schlau in den Wald und kommt als Vollidiot wieder heraus. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Auf solchen Unternehmungen füllt sich der Kopf regelrecht. Ich laufe, um den Kopf voll zu kriegen. Es passiert einfach.

Aus allen Richtungen kommen sie, die Gedanken, die vielen Fragen. Sie machen dann ihren ganz eigenen Spaziergang. Im Kopf. Strukturenbrechend. Ohne Absatz. Die Augen sehen dann Baum um Baum, der Verstand sagt Bäume und irgendwann Wald dazu, die Füße in Bewegung, der Köper funktioniert, ohne auf bewusste Signale aus dem Hirn zu warten. Dann die Geräusche. Der Geruch. Ein Nebeneinander der Sinne. Und irgendetwas ist ganz sicher um Koordination bemüht. Ungefähr so:

„Mein Leben lang habe ich darunter zu leiden, dass ich zu gut von Menschen denke.“ Wer hat das gesagt? Warum knistert das Laub? Die Dörfer am Rhein. Das sind die vielen Fassaden, die nicht einmal mehr Erinnerung sind. Staub, Schutt. Marode Ästhetik. Einer nannte es Siff. Sie wünschen sich, dass nochmal einer „Siff“ sagt. Also dann, Siff, Siff, Siff. Wie der Wald riecht. Ich muss mich auf diesen Geruch konzentrieren. Vielleicht gehöre ich zu den Menschen, die nicht permanent unter Menschen sein müssen. Vielleicht ist das auch gar nicht schlimm. Gelbgrüne Raupen hängen einfach im Weg. Tanz am seidenen Faden. Dann diese Schlagzeile: Urologe erklärt: Der Penis ist die Antenne des Herzens. Wann hat die Bild-Zeitung begonnen, Titanic-Redakteure einzustellen? Licht bricht. Schatten. Vogelgezwitscher. Ja, die Liebe, alle reden über sie, kaum einer hat wirklich etwas zu sagen. Der unglücklich Verliebte sieht nur Paare. Der unglücklich Verpaarte nur Verliebte. Ein Hupen. Schiffshupen. Goethe. Immer wieder Goethe. Was macht der eigentlich auf dem Rhein? Hupen ist Kommunikation. Ich brauche eine Facebook-Hupe. Diese eine Formulierung war echt daneben. Hättest du auf diesen Kommentar antworten sollen? Immer diese dicken Käfer, die sich von der Sonne rösten lassen. Sie liegen knusprig des Weges. Bleibt doch im Laub! Vollidioten. Zu lieben heißt loslassen. Auch das sagt man so. Das ist ein Spruch für Leute, die zwanghaft lieben, für Psychopathen oder für Eltern, die Kinder loslassen müssen. Liebende sollten festhalten. Um jeden Preis. Festhalten. Moos. Überall. Moos. Die Steine haben grüne Frisuren. Ein Wald voller Punks. Nichts ist vergleichbar mit der Melancholie eines Waschsalons. Nichts mit dem beruhigenden Knattern einer 14kg-XL-Waschmaschine. Achtung Maus…husch. Weg. Ja, so eine Burg verändert. Das sollte sie auch. Eidechse. Zweidechse. Und noch eine. Zuppa inglese. Ich habe tatsächlich ein Eiscafé entdeckt, das noch immer diese Eissorte verkauft. Und wieder das Laub. Es knistert. Wie Brausepulver. Warum? Ich verstehe es nicht. Wieso knistert das? Das Gefühl, zurückzukommen, Großstadt auszustrahlen. Gesichter zu sehen, die erwachsen, verwachsen und dick wurden, man ahnt nur, was passierte – und vor allem, was alles nicht passierte. Halbglatzen. Moos berühren. Nein, noch einmal. Und jetzt bewusst berühren. Um Himmels willen, was tust du? Als nächstes wirst du Bäume umarmen. Beruhig dich. Es ist doch nur Moos, verdammt. Das Nass der Blätter. Grün, gelb, karg, wieder grün, Ast, Staub, Licht. Aus.

Noch fünf Gedanken.

In fünf Gedanken zuhause.

Durchatmen. Loslassen.

Wenn ich in der Dunkelheit die B9 nachhause fahre. Rechts der Rhein. Die Burg links oben. Ich kann sie nicht sehen, aber sie ist da, ich weiß es. (Wo soll sie auch sonst sein?) Der Rhein funkelt dann verhalten zur Rechten, die Fliegen zerplatzen an der Windschutzscheibe. Wischautomatik für die vielen toten Tierchen. Sie unterscheidet nicht zwischen Regen und Käfergelatine. Einfach wegwischen. Weitermachen. Weiterfahren. Und dann der letzte Abschnitt bis zur Burg. Der holprige Weg dort hinauf. Der letzte Anstieg. Zweiter Gang. Alles dunkel. Bis auf das Licht der Scheinwerfer. Es schneidet leuchtende Kegel in die Dunkelheit. Sie werden verschluckt von der Finsternis des Horizonts. Die Motten und Fliegen ziehen im Lichte zappelnd die Burg hoch. Lichtsäulen in flimmernder Bewegung. Scheibe runter. Fahrtwind. Es riecht nach Sommer. Und dann mit Nick Cave dort hoch. Kann es etwas Erhabeneres geben als mit Nick Cave dort hoch?

You cried beneath the dripping trees
Ghost song lodged in the throat of a mermaid

Let us sit together in the dark until the moment comes
With my voice
I am calling you
With my voice
I am calling you

Dann weiß ich, warum ich hier bin, warum ich das mache. Dann weiß ich, dass ich am Leben bin.

Ich weiß es einfach.

7 Kommentare

  • Eingeborener says:

    „Und das, was nach ca. 600 Schritten dann noch vom Apfel übrig ist, fliegt im hohen Bogen in den Soonwald.“

    Das müsste dann ein sehr sehr hoher Bogen gewesen sein… also garantiert niemand aus dem Mittelrheintal bezeichnet den Binger Wald als Soonwald. Der Soonwald beginnt jenseits der A61.

    P.S. Der Martinspfad verlief ursprünglich (vom Aussichtspunkt mit der Bank) weiter oberhalb des Steinbruchs entlang – bis er von diesem einestages „gefressen“ wurde. Erst deutlich später haben ein paar (fleißige) Rentner die „Querverbindung“ zum Turm des Siebenburgenblick geschaffen.

  • Dirk Melzer says:

    Kleiner Literaturtip zur Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie (engl. „strollology“): „Warum ist Landschaft schön?“ von Lucius Burkhardt. Beste Grüße, Dirk Melzer

  • Roland Henssler says:

    ich hân mîn lêhen… freute sich ein anderer darüber, dass er endlich seine Burg bekam. Ein frühmorgendlicher Text, der aus Freude geschrieben wurde! Wie positiv! Die meisten Texte werden heutzutage aus Frust, aus Ärger, aus Neid, auf jeden Fall aus niedrigen Beweggründen. Ich ziehe Freude vor.

  • Danke für Deine tollen Texte. Spannend, dass es bei dir nicht nur um das WAS du schreibst geht, sondern auch um das WIE und – besonders spannend – um das WARUM du WAS schreibst. Texte wie diese sind echte „Brainteaser“, die über das Mitteltal hinaus Bedeutung haben. Du nimmst uns mit auf eine Reise, die mit einer Herausforderung begann, und läßt uns teilhaben an dem, was das alles mit dir macht. I LIKE. Und bin schon gespannt auf dein nächstes Kapitel…Bester Gruß Andreas

  • Sandra T. says:

    Wirklich guter Text – so ist das beim Spazierengehen … genau so!

    Ich wünsche weiterhin gute An- und Einsichten auf dem Weg.

    Herzlich, Sandra T.
    (Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht)