Wie ich plötzlich am Felsen hing

von
Foto: Rolf Bretz

Hoch motiviert und in voller Radmontur stehe ich im Innenhof der Burg, um festzustellen, dass außer mir niemand da ist. Das Burgtor ist verschlossen, ungewöhnlich an einem Sonntag. Ich rufe Klaus an, den Burgverwalter.

„Klaus, wo bist du?“

„Ich bin gerade in Ingelheim.“

„Und die Burg?“

„Die bleibt heute geschlossen, wegen Tal total“.

„Genau deswegen rufe ich an, ich stehe hier in voller Montur bereit und möchte mit dem Rad mitfahren.“

Klaus lacht. „Tja, da hätten wir gestern drüber sprechen müssen …“

Mein Mountainbike steht im Keller der Burg. Die Tür ist verschlossen. Der Schlüssel liegt im Tresor. Klaus ist in Ingelheim. Die Straßen sind bereits für Autos gesperrt. Das war‘s dann also für mich mit Tal total. Ein kurzer Moment der Frustration. Doch warum jetzt lange rumärgern? Klassischer Absprachefehler. Klaus wusste nichts von meinen Tal-total-Plänen. Ich wusste nichts davon, dass die Burg deswegen geschlossen bleibt.

Auto und Fahrrad sind also keine Option. Was tun? Da muss ich nicht lange überlegen. Ich tausche Fahrrad- gegen Wanderschuhe und begebe mich entlang des Martinspfades oberhalb der Burg Sooneck auf den Weg in Richtung Trechtingshausen.

Plötzlich stehe ich mitten im Steinbruch. Kein Schild, kein Zaun, kein Mensch – nichts und niemand hat mich darin gehindert. Es ist Sonntag, gearbeitet wird also nicht. Und viel wichtiger: auch nicht gesprengt. Ich schaue mich kurz um, mache ein paar Fotos und verschwinde wieder. So ganz geheuer ist mir die Situation nicht. Der Boden unter mir ist durchzogen von Rissen. Wer weiß, ob unter oder über mir nicht unerwartet Gestein wegbricht. Dass ich später dennoch eine ganz spezielle Erfahrung mit Gestein machen würde, ahnte ich da noch nicht.

Den Wald habe ich ganz für mich allein. Lediglich ein Paar mit Hund begegnet mir. Sind wohl alle mit dem Rad am Rhein unterwegs, denke ich. Und tatsächlich: Jedes Mal, wenn die Bäume mir einen Blick auf den Rhein gewähren, sehe ich Radfahrer auf der gegenüberliegenden Bundesstraße. „30.000 Teilnehmer bei Tal total“, wird die Rhein-Zeitung hinterher titeln. Immerhin doppelt so viele wie im Vorjahr. Aber nur rund ein Fünftel der Radfahrer, die in den ersten Jahren der 1990er-Jahre dabei waren. „Den langjährigen Teilnehmerschwund erklärte Touristikexpertin Schwarz mit der inzwischen stark gestiegenen Zahl anderer autofreier Erlebnistage und dem massiven Ausbau des Radwegenetzes, das Radfahrer jeden Tag nutzen können“, schreibt die Rhein-Zeitung. Gemeint ist Claudia Schwarz von der Touristikgemeinschaft Tal der Loreley.

Ich habe dazu außerdem eine andere These: Immer mehr Menschen setzen auf E-Bikes oder Pedelecs. Damit lassen sich auch steilere Strecken leichter befahren. Radbegeisterte, denen die Höhen von Taunus und Hunsrück bisher kräftemäßig verwehrt blieben, können diese mithilfe der neuen Technik jetzt erschließen. Sie sind nicht mehr nur an die flachen Radwege entlang des Rheins oder anderer Flüsse in der Region gebunden.

Vorbei am Aussichtspunkt Hagelkreuz gelange ich ins Morgenbachtal, einem Naturschutzgebiet zwischen Bingen und Trechtingshausen. Zu meiner Überraschung treffe ich dort auf einen Parkplatz voller Autos. Wenige Meter weiter bringt ein Schild Aufklärung. „Kletter-Felsen Morgenbachtal“ ist darauf zu lesen. Mein Interesse ist sofort geweckt. Ich verlasse den Forstwirtschaftsweg und folge dem schmalen Pfad, der mich zu einer wunderschönen Felsformation führt.

Die Autos ließen es bereits erahnen, dort bin ich nicht allein. Ich entdecke einige Kletterer, die mitten in der Felswand hängen. Andere ruhen sich im Schatten der grauen Riesen aus oder ziehen sich um. Ich frage in die Runde, ob es okay ist, wenn ich ein paar Fotos mache. So komme ich ins Gespräch mit Volker. Zusammen mit einigen Freunden ist er aus der Nähe von Trier angereist. Sie sind zum ersten Mal im Morgenbachtal. In ihrer Region gibt es nicht viele Möglichkeiten zu klettern. Meist gehen sie in die Kletterhalle. Oder in ein Gebiet in Luxemburg, wo aber oft viel Betrieb sei.

Zufälligerweise lebt auch Volker auf einer Burg. Der Neuerburg bei Bitburg, um genau zu sein. Dort hat er vor einigen Jahren die Pacht übernommen. An die Burg angeschlossen ist eine Jugendherberge, die er mit seiner Frau betreibt. Die Menschen, die hören, dass er auf einer Burg lebe, stellen sich das immer total romantisch vor, erzählt Volker. Dabei sei es in Wahrheit verdammt viel Arbeit, eine Burg zu unterhalten. Dennoch musste er nicht lange nachdenken, als er das Pachtangebot damals entdeckte.

„Wenn du Lust hast, kannst du gleich auch mal hoch“, sagt Volker.

Ich zögere kurz. Nicht aber, weil ich Angst habe, sondern weil ich außer einem kleinen Frühstück noch nichts im Magen habe. Ich bin nicht sicher, ob meine Kräfte ausreichen, um die rund 20 Meter hohe Felswand zu erklimmen. Andererseits bin ich für neue Erfahrungen immer zu haben. Ich tue es.

Wir stimmen kurz unsere Schuhgrößen ab.

„Ich hoffe, du hast keine Käsefüße“, sagt Volker und lacht.

„Naja, ich bin schon einige Kilometer gewandert…“, antworte ich.

Barfuß ziehe ich Volkers Schuhe an. Sie liegen extrem eng an. Und das müssen sie auch, erklärt er mir. Ich lege mir das Gurtzeug an, befestige den Beutel mit dem weißen Kreidepulver mit einem Karabinerhaken daran und stelle mich an die Felswand. Beinahe senkrecht geht es vor mir nach oben. Ich suche einen passenden Einstieg und klettere los. Die ersten Meter bewältige ich erstaunlich leicht.

„Die Hälfte hast du schon geschafft“, ruft Volker mir von unten zu.

Am Klang seiner Stimme erst erkenne ich, wie hoch ich bereits geklettert bin. Auf knapp zehn Metern stehe ich nun in einer Felswand. Gesichert durch einen Achterknoten und Volker, der mich von unten am Seil sichert. Bei der ersten Klettererfahrung bestimmt ein mulmiges Gefühl, sollte man meinen. In mir breitet sich jedoch etwas anderes aus: Ehrgeiz. Wenn mir schon Tal total heute verwehrt bleibt, dann will ich zumindest diese Felswand bezwingen. Also weiter nach oben.

Die Hände suchen Griff-, die Füße Trittmöglichkeiten. Meist gelingt das auch. Doch auf etwa zwei Drittel der Strecke bleibe ich stecken. Ich weiß nicht weiter. Kurz verlassen mich die Kräfte. Volker reagiert von unten und zieht das Sicherungsseil straffer. Schräg über mir steht Rolf, einer von Volkers Freunden, und gibt mir Tipps. Mit seiner Hilfe finde ich die passenden Griffe und Tritte und schaffe es letztlich doch noch bis auf die Spitze des Felsens. Geschafft! Erleichterung. Und ein bisschen stolz bin ich auch.

„Sag Bescheid, wenn du wieder runter willst“, ruft Volker zu mir hoch.

Doch erst einmal möchte ich kurz die Aussicht genießen. Durchatmen. Mich sammeln.

„Okay, ich komme runter“, rufe ich Volker zu.

Ich umfasse den Achterknoten fest mit beiden Händen, wie es mir erklärt wurde. Volker gibt dem Seil mehr Spiel, ich strecke die Beine durch und stemme mich in die Felswand. Das Abseilen zumindest ist mir nicht ganz fremd. Bei einer Reportage über die Diensthundeschule der Bundeswehr ließ ich mich mal an einem Turm abseilen, um besser fotografieren und filmen zu können. Trotzdem überkommt mich hier am Fels jetzt das bisher mulmigste Gefühl des Tages. Denn bevor ich wieder in die Felswand hineinsteigen kann, muss ich einen kleinen Vorsprung an der Spitze des Felsens überwinden. Die Kletterer reden hier von der „Nase“. Ich sehe kurz nicht, was unter mir ist. Langsam taste ich mich mit den Füßen vor. Auch das wäre geschafft. Jetzt nur noch ganz lässig, so James-Bond-mäßig, mit den Füßen vom Fels abstoßen, bis ich wieder unten bin.

„Das war fürs erste Mal echt gut. Du solltest dir überlegen, das öfter zu machen“, sagt Volker.

Falls ich also in Zukunft mal wieder nicht an mein Fahrrad herankomme – ihr wisst, wo ihr mich findet …

 

Hier die Fotos zum Durchklicken:

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