Heimat 537

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So sieht er aus. Der Rheinkilometer 537. (Foto: Timo Stein)
So sieht er aus. Der Rheinkilometer 537. (Foto: Timo Stein)

Das Mittelrheintal ist eine Art geliehenes Zuhause. Ich gebe es zurück, und werde es dennoch eine Weile mit mir herumtragen.

Die Burg war mein Zuhause auf Zeit. Zwei Wochen werde ich noch das Burgtor aufschließen und so tun, als wäre es das Normalste der Welt. Zwei Wochen werde ich noch Tassen über Spinnen stülpen, die unbedingt auch auf einer Burg leben und mit mir das Zimmer teilen möchten. Zwei Wochen noch werde ich nachts im Dunkeln die Tassen dann wieder umstoßen, weil ich sie längst vergessen habe: die weißen Porzellanpilze auf altem Holz. Zwei Wochen noch werde ich tote Fruchtfliegen von der Fensterbank saugen. Zwei Wochen noch werde ich von hier oben auf dieses Wunderland gucken, auf diese Miniaturwelt mit ihren Merklinbahnen, Miniaturschiffen, Spielzeugautos und mit einem fetten Grinsen durch den Tag gehen. Zwei Wochen noch ist mein Zuhause der Rheinkilometer 537.

Und dann tausche ich die Burg wieder. Und gehe mit einem guten Gefühl. Denn ich habe Menschen getroffen, denen ich in meiner Berliner Welt sehr wahrscheinlich nie begegnet wäre. Menschen, die die ganze Welt gesehen haben und wieder ins Tal zurückgekommen sind. Und Menschen, die nie weg waren, weil ihnen der Rhein die Welt vor die Haustür spült.

Ich hoffe, es ist über die Monate ein bisschen deutlich geworden, was ich hier eigentlich versucht habe zu machen. Es war nicht mehr als der Versuch, Bilder und Eindrücke zu sammeln, Porträts von den unterschiedlichsten Menschen zu zeichnen, um diesen lokalen Blog mit Erzählungen zu füllen, die immer auch einen überregionalen Ansatz verfolgen. Geschichten zu schreiben, die zwar in der Provinz spielen, aber in der Welt zuhause sind. Ich habe versucht, im Kleinen zu suchen, was eine Gesellschaft im Großen zusammenhält. Und was sie spaltet.

Denn: Es sind die vermeintlich großen Fragen unserer Zeit, die in den letzten Jahren so absurd kleingeistig verhandelt wurden. Fragen nach Heimat, nach Identität. Die Menschen sind ja irgendwie verrückt danach. Diese Fragen hatte auch ich im Gepäck, als ich auf die Burg zog. Diese Fragen und Begriffe, die nicht nur in diesem Land so überhöht und gleichzeitig so lausig eng gefasst werden. Weil sie fast immer unter dem negativen Vorzeichen von Verlust diskutiert werden.

Es sind Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt und geben kann. Allenfalls ein respektvolles Nebeneinander unterschiedlichster Entwürfe und Ideen.

Deswegen habe ich an den Theken nach der Leitkultur gesucht und Parkplätze gefunden. Deshalb habe ich mich auf den Spuren nach jüdischem Leben am Mittelrhein gemacht. Und bin auf einen Heimatdichter gestoßen, der keiner sein will. Eine Kioskfrau, die selbst nach so vielen Jahren auf ihrem immer gleichen Weg zur Arbeit, ihre Welt in neuem Licht sieht und diesen Blick auf Instagram teilt. Auf einen Bluesbarbesitzer, den die Liebe hier zurückgelassen hat. Auf einen Förster, der sein Zuhause mit Borkenkäfern teilt. Oder auf lebensfrohe Asiaten, die Touristen den Ententanz beibringen.

Ich habe nach so etwas wie Heimat und Identität gesucht und Heimaten und Identitäten gefunden. Der eine findet seine Heimat im Wald, ein anderer in der Dichtung oder auf Instagram.

Nur so ist Heimat erträglich. Nicht rückwärtsgewandt. Nicht reaktionär. Nicht ausgrenzend, sondern unverschämt einladend. Denn: Heimat und Identität haben ja nur einen Sinn, wenn man sie teilt. Mit anderen. Und sei es mit einem einzigen Menschen.

In Deutschland, Europa und der Welt wird Heimat als politische Kategorie wiederentdeckt. Heimatministerien schießen wie glitschige Pilze aus den Böden. Es ist nicht mehr als der leidliche Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Heimat wird erst institutionalisiert, dann verordnet und ziemlich sicher unter Wert verramscht. Denn Heimat ist kein Ort. Natürlich, sie kann auch das sein. Doch eine echte Heimat hat kein Blut und keinen Boden.

Heimat ist ein Gefühl. Ich nenne sie Zuhause. Und das kann so Vieles sein: ein kluger Gedanke, in einem klugen Buch, ein schmissiger Refrain, ein Geruch oder eine Umarmung. Eine Erinnerung, die ein Versprechen in die Zukunft mit sich führt und gleichzeitig etwas ungemein Verklärendes hat. Heimat als etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, wie es Ernst Bloch formulierte.

In Clifford D. Simaks Roman „Heimat Erde“ ist Heimat ein Friedhof. Die Menschheit ist längst auf anderen Planeten verteilt. Die Erde unbewohnbar. Dorthin kommen sie nur zurück, wenn sie tot sind. In Särgen. Sie kommen, um sich begraben zu lassen. Die Heimat Erde ist das sie letzte verbindende Element. Es ist die fixe Sehnsucht nach einem gemeinsamen Ort, einer Art Ursprung, einem Platz. Obwohl die Menschen längst in verschiedenen Welten geboren werden und in verschiedenen Welten leben und sterben, kommen sie im Tod zusammen.

Ich weiß nicht, was Heimat ist. Aber ich weiß, was sie sein kann: Streit, Verwundbarkeit, Lüge, Lust und Leid. Ein Spaziergang im Herbst. Oder ein Schwätzchen an der Käsetheke. Heimat ist, wenn man nach Hause kommt und den Schlüssel nur einmal rumdrehen muss. Heimat sind lange Fahrten durchs Tal, um schließlich wieder zurück auf der Burg in einer Wolke aufzuwachen.

In ihr bricht sich Idyll und Schrecken gleichermaßen. Das weiß niemand besser als Edgar Reitz. Es ist kein Zufall, dass er den drittel Teil seines Heimat Epos’ am Mittelrhein verfilmt hat. Im Günderodehaus oberhalb von Oberwesel. Dort hat man den vielleicht schönsten Blick auf den Mittelrhein. Dort oben unter diesem alten Baum. Dort bekommt man ein Gefühl dafür, dass Heimat immer auch Sehnsucht ist. Nach etwas Anderem. Etwas Besserem. Für den, der Aufbricht, wird sie das sein, was er zurückgelassen hat. Für den, der bleibt, wird sie Projektionsfläche für all das, was hätte sein können. Sie ist wie die andere Seite des Mondes. Allein die Abwesenheit macht sie interessant.

Ich verlasse nun bald mein neues Zuhause, um es gegen ein altes zu tauschen. Das ist schon in Ordnung so. Ich bin ja im Grunde eine Schildkröte. Aber ich habe mir irgendwann eine Halskrause verpasst. Das funktioniert eigentlich ganz gut. Den Kopf einziehen kann ich nicht mehr. So richtig nach Hause geht auch nicht. Und trotzdem trage ich meine Heimaten mit mir herum. Und da bin ich sicher nicht allein. „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause“, hat Ernst Bloch geschrieben. Und das hat etwas ungemein Beruhigendes.

17 Kommentare

  • Horst Felder says:

    Immerhin zum Abschied mal ein einigermaßen neutrales Foto der rheinischen Landschaft (sogar trotz deines geschmacksverirrten „70er-Jahre-Müll-Filters“). Deine andere rheinischen Landschaftsaufnahmen empfinde ich als reine Beleidigung. Als hättest du es dir zur Aufgabe gemacht das Rheintal möglichst hässlich darzustellen. Bleib in Zukunft lieber bei Texten, das kannst du!

  • Ende Oktober
    die Zugvögel
    ziehen hinweg
    die Burgenblogger
    sie gehen
    vorbei ist der Sommer
    die Sprache
    hitzte sich auf
    Blicke sie warfen
    Perspektiven
    durch Schatten
    Worte die genau
    da abwägten
    wie Spinnen
    gefangen im Glas
    sind die Worte
    die da vernetzen
    jetzt schließt sich
    das Tor da der Burg
    rostig im Herzen
    bleibt ein Schlüssel
    zurück
    der Winter
    wirft seine Netze
    von Ufer zu Ufer
    Stille kehrt ein
    in der Burg
    die Espressomaschine
    verwaist

  • Nicole Meisinger says:

    Hallo Timo, Sie sind jederzeit herzlich willkommen im Mittelrheintal. Ein Gästezimmer steht bereit. Einfach melden, wenn es soweit ist…
    Danke für Ihre sehr wertvolle Arbeit! Ich habe die Geschichten aufmerksam verfolgt und werde die Beiträge aus der Schreibwerkstatt auf Burg Sooneck sicher vermissen. Viel Glück für den neuen Lebensabschnitt in Bayern.

    • Timo Stein says:

      Wow, danke, Nicole. Von einem neuen Lebensabschnitt in Bayern ist mir allerdings nichts bekannt. Grüße!

  • wenn du in Berlin Sehnsucht bekommst nach dem Rheintal, bastle dir einen Käseigel und mach dir ein Fläschchen Mittelrheinwein auf

  • Dorle says:

    Beherberge uns als ein Teil von dir im deinem Herzen. Es soll auf ewig in dir nun wie ein wenig Heimat sich anfühlen. ♡♡♡

  • Marion says:

    Danke Vera! Naja, im Münchner Speckgürtel würde ich mich wahrscheinlich auch nicht wohlfühlen ;-) Mich zieht es ganz konkret in die Berge. Bayern fängt ja gleich hinter Hessen an, aber es ist mir nicht egal, wo in Bayern ich leben werde.

    • Vera says:

      Ich bin ja ein echtes Münchner Kindl und habe mich da immer wohl gefühlt. Es hat sich eben so ergeben, dass ich hierher gekommen bin, und jetzt würde ich nicht mehr weg wollen. Die Berge sehe ich am liebsten vom Tal aus, und so findet wohl jeder sein Passendes :-)

  • Marion says:

    Alles Gute für Dich, Burgenblogger. Ich war beim Lesen Deiner Beiträge oft zwiegespalten. Einerseits hat sich in mir etwas gesträubt, wenn ich gesehen habe, wie Du „Salz in die Wunden gestreut“ hast, um es mal mit meiner Vorschreiberin zu sagen. Andererseits wusste ich im Grunde meines Herzens, dass Du Recht hast. Es ist halt eine undankbare Aufgabe, wenn man etwas geschenkt bekommt (in Deinem Fall ein vorübergehendes Zuhause und die dazugehörige Aufmerksamkeit in Deinem Blog) und darüber nicht viel Positives berichten kann. Aber ich selbst bin gestern aus Richtung Süden wieder ins Rheintal zurückgekommen und habe ganz deutlich gespürt: Hier war nie wirklich mein Zuhause! So habe ich mich mittlerweile auch schon mental davon gelöst und muss auch nicht mehr Abschied nehmen, wenn ich bald ganz in die bayerischen Alpen ziehe. Der morbide Charme und die vergangenen Zeiten untergegangener Tourismuskultur halten auch mich nicht mehr hier und andere Regionen zeigen, wie man langfristig Gäste binden kann. Man muss nur hinsehen und bereit sein, sich ein gutes Beispiel zu nehmen oder sich ne Scheibe abzuschneiden. Und Timo, wenn Du nochmal eine Tasse über eine Spinne stülpst, versetz Dich mal in ihre Lage. Ich nehme immer ein Glas und ein Stück Pappe und bringe sie nach draußen. Das kostet nicht viel Zeit, ist aber gut fürs Gewissen. Alles Gute in Berlin und wenn Du mal in den Bayerischen Alpen bist, kannst Du gerne eine Mail schicken, dann lade ich Dich auf einen guten Cappuccino ein – aus Kaffee von dortigen Röstereien.

    • Vera says:

      Da sieht man, wie die persönlichen Unterschiede doch sind. Ich bin aus Bayern vor 10 Jahren hierher gezogen, aus dem Münchner Speckgürtel, und fühle mich hier wohl und daheim.
      Vielleicht auch, weil wir hier viele Menschen kennen gelernt haben und kennen lernen, die etwas bewegen. Und da geht es gar nicht in erster Linie um Tourismus, sondern um die Menschen selbst, die hier leben und arbeiten. Hier tut sich was, man muss nur hinschauen und mitmachen.

      Ich wünsche Ihnen alles Gute in Bayern.

    • Timo Stein says:

      Danke und Grüße nach Bayern!

  • Barbara Ams says:

    Man sieht sich immer zweimal im Leben… ich hoffe, du kommst nochmal zurück. Ich werde diese hinreißend geschriebenen Geschichten vermissen… alles Gute!

  • Gudrun Hees says:

    Niemals geht man so ganz … ich hoffe, Du auch nicht lieber Burgenblogger. Ich fand die Art zu berichten als auch Salz auf Wunden zu streuen stets gelungen und realitätsnah. Danke!

  • Vera says:

    Toll. Spricht mir aus dem Herzen. Ich werde Deine Beiträge sehr vermissen.