Wie man einen alten Mythos auf seinen Spaßfaktor testet: Ich besuche mit einer Schulklasse die Loreley, kreische in der Sommerrodelbahn und begleiche offene Rechungen
Die Pausenglocke läutet, das Schülergeschrei verstummt. Die Lehrerin kommt in den Klassenraum und sagt: „So, liebe Klasse 8d, heute haben wir einen besonderen Gast. Das ist die Bloggerin von der anderen Seite!“
So wurde ich heute Morgen im Wilhelm-Hofmann-Gymnasium in St. Goarshausen vorgestellt. Mit der reizenden Englisch- und Französischlehrerin Beate Conze hatte ich mich verabredet. Denn ihre Schüler haben kürzlich ein spannendes Projekt gemacht: Einen Kurzfilm über Legenden im Mittelrheintal haben sie gedreht. Und damit nun eine Preis beim Fremdsprachenwettbewerb gewonnen. Grund genug für mich, mal mit der Fähre überzusetzen – auch wenn ich von der anderen Rheinseite komme.
Die Geschichte um den Mäuseturm, die Sage vom Schinderhannes und natürlich – wie sollte es anders sein – den Mythos der Loreley haben die Schülerinnen und Schüler in einem englischsprachigen 15-Minüter aufgearbeitet. Am Anfang heißt es noch: „Old stuff from a time when we weren’t even born“, doch bald entdecken die Filmschüler den Spaß an der Heimatkunde. Der Schinderhannes lässt die Hosenträger schnalzen, die Loreley leidet unter historischer Falschinterpretation wie eine maulende Myrte. Und am Ende sagt die ganze Klasse in die Kamera: „Come to the beautiful Middle Rhine Valley and see for yourself what is true and what is legend…“
Gesagt, getan. Gemeinsam wollen wir heute dem alten Mythos der Loreley auf den Pelz rücken (Ich habe da ja noch ein paar Rechnungen offen…) Doch vorab noch ein paar Worte zur Schule, die eine besondere ist. Sie betreibt den letzten Weinberg in St. Goarshausen mit ihrer Wein-AG. Einige Schüler kommen jeden Morgen mit der Fähre über den Rhein zum Unterricht, bei Hochwasser ist schulfrei. Und das Gymnasium bietet ab der 9. Klasse Kurse für den Mofaführerschein an. „Zur Befreiung“, wie Schulleiter Fritz Schornick sagt. Ein Schüler aus Kaub, der in Lorch Fußball spielt, kann es kaum erwarten, den Lappen zu bekommen: „Dann ist man endlich nicht mehr so abhängig davon, dass einen die Eltern hin und her fahren.“
Hin- und wegkommen ist ein großes Thema für Minderjährige im Mittelrheintal. Manche Schüler kommen in die elfte Klasse und waren noch nie, nie, nie auf der anderen Rheinseite. Das ist verrückt. Findet auch der Schulleiter. „St. Goar und St. Goarshausen sind zwei getrennte Städte – die verbindet auch die Nabelschnur der Fähren nicht wirklich.“ Der Schulleiter ist Mittelrheiner durch und durch. Aber er ist skeptisch, wenn es um die Zukunft des Tals geht. „Hier stirbt alles“, sagt Schornick melancholisch. Er hat den Bahnlärm als Ursprung allen Übels ausgemacht.
Ich frage lieber die 14-Jährigen, was ihnen fehlt. Sie rufen: „Eine Brücke! Mehr Geschäfte! Überhaupt mehr Aktivitäten für Jugendliche!“ Ich frage, ob sie bleiben wollen. Alle nicken. Was sie gerne machen? Wie alle Teenager: Shoppen, Urlaub, Youtube Videos gucken. Was sie aber ausgerechnet hier gern machen? Fasnacht, in der Garde tanzen, mit französischen Austauschschülern die Loreley besuchen. Das machen wir jetzt auch.
Schwitzend und schnaufend den Treppenweg zur Loreley hinauf. Oben kurze Rast am Aussichtspunkt. Dann wie immer Verwirrung: Wo ist jetzt der Felsen? Kurzer Witz einer Schülerin: „Ist ja voll versifft hier“. Alle lachen. Dann die augenrollende Frage: „Müssen wir echt noch da hin, wo die Flaggen sind? Wo ist hier eine Toilette? Frau Lehrerin, können wir nicht lieber gleich zur Sommerrodelbahn?“ Okay.
Der Betreiber der Sommerrodelbahn Rainer Knecht erwartet uns schon. Bevor wir die Alupiste hinunter sausen, haben die Schüler noch drei Fragen an den Mann, der hier vier Jahre lang um eine Baugenehmigung kämpfte und sich mit seinem Freizeitangebot nicht nur Freunde machte. Auf einem Plakat im Kassenhäuschen steht der Werbeslogan: Spaß hat einen Namen. Erste Frage: Rentiert sich die Rodelbahn inzwischen? Antwort: „Wir sind im Finanzplan, haben 150.000 Fahrten jährlich.“ Zweite Frage: Gibt es noch Beschwerden gegen die Sommerrodelbahn? Antwort: „Wenn einer mehrfach zu spät bremst, kriegt er ’nen Platzverweis. Dann gibt’s immer Beschwerden.“ Dritte Frage: Was sagen Sie zur Empfehlung der Unesco, die Rodelbahn abzubauen? Antwort: „Wir wurden hier einfach in die Wurst gehackt. In Koblenz darf die Seilbahn bleiben, wir müssen weiter bangen. Jetzt hängt alles vom nächsten Unesco-Treffen in Bonn Ende Juni ab. Aber: Die Unesco kann mich nicht erschüttern.“
Als Neumittelrheinerin bin ich es langsam gewohnt, dass sich hier immer alle über die Bahn beschweren. Jetzt also mal diese Rodelbahn. Eine verirrte Blechschlange, die Knecht „Kurvenlabyrinth“ nennt. Muss mal halt mal ausprobieren, sonst ist ja hier oben auch nichts los. Also rasen wir mit 30 Stundenkilometern die Sommerrodelbahn runter. Es wird gelacht. Ich streame meine Fahrt mit der App Periscope (deshalb ist das Video hochformatig und krisselig, es war ja live zu sehen). Der Schnappschussautomat fängt danach ein angstverzerrtes Burgenbloggergesicht ein:
Im Anschluss will ich vom Betreiber der Sommerrodelbahn noch wissen: „Was würden Sie hier oben auf dem Loreleyplateau machen, wenn Geld keine Rolle spielte und Sie freie Hand hätten?“ Knecht guckt verkniffen. Er hat viel gekämpft in der Lokalpolitik, er ist ein bisschen wütend jetzt. Er sagt ganz ernst: „Toiletten bauen.“
6 Kommentare
Liebe Burgenbloggerin Jessica,
vielen Dank für den wunderschönen Beitrag, der viele eingeschlafene Bilder wieder wachwerden lässt. Als ehemalige Schülerin des Wilhelm-Hofmann Gymnasiums bin ich schließlich auch 9 Jahre mit der Fähre zur Schule und ich kann sagen, im Herbst sieht man bei alle dem Nebel im Tal nicht einmal, wohin man fährt, und es ist s…sehr kalt! Das schöne Wort „hochwasserfrei“ und die magische Zahl von 6,25m Kauber Pegel kannte man schon als Sextaner in der ersten Woche.
Und das „Brücken-Problem“ stellte sich uns schon VOR der Jahrtausendwende. Dabei hätte man die Zeit, die man schon montags für die Organisation des anstehenden Wochenendes aufgebracht hat, so gut in das Lernen investieren können. Fragen über Fragen: Wessen Eltern holen uns an der Fähre ab? Wo übernachten – auf die andere Rheinseite konnte man ja nach 23 Uhr (im Winter sogar noch früher) nicht mehr – ? Wie am nächsten Morgen – oder Mittag/Nachmittag, um bei der Wahrheit zu bleiben – zurück zur Fähre? Die Schlafsäcke waren im Dauergebrauch. Und dabei musste natürlich auch darauf geachtet werden, dass keine Rheinseite benachteiligt wurde und die Partys abwechselnd einmal rechtsrheinisch, einmal linksrheinisch gefeiert wurden.
Dennoch, bei keinem Projekt, keinem Unterrichtsfach, keiner Klassenfahrt wurde unsere Organisationskompetenz so gefördert, wie bei der Planung der Wochenenden. Und so hatte – und hat sicherlich noch immer – das „Brücken-Problem“ auch seine positiven Seiten. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sogar das schöne Adjektiv „völkerverbindend“ benutzen. Denn natürlich lernte man sich bei all den Schlafsäcken auch besser kennen.
Ein Beitrag, der die Situation und Probleme der Einheimischen einfängt, beginnend bei dem fehlenden Austausch zwischen den Seiten und noch nicht endend bei der Resignation angesichts des (zumindest gefühlten) Entwicklungsstopps durch den Welterbestatus. Meine werten Damen und Herren Politiker – so isses!
Letztes Jahr bin ich die Extratour rund um die Loreley gewandert und war überrascht auf einmal die Sommerrodelbahn zu sehen. Im Jahr davor war in der Zeitung zu lesen das die Rodelbahn rückgebaut wird. Und ich glaube es gibt viele die gar nicht wissen das die Rodelbahn noch im Betrieb ist.
Auch typisch Mittelrhein-Weltkultuerbe-Problematik. da gibt es zwei tolle Prokjete die Gäste UND Einheimische anziehen ( Seilbahn in Koblenz und Sommerrodelbahn) und dann heißt es, dass ist mit dem Welterbestatus nicht vereinbar. So ein Quatsch. Ich finde beides stört optisch nicht und ist eine Bereicherung für die Region.
Ungehorsam auf der Sommerrodelbahn
Tolle Filme, der eine wie der andere. ;-)